© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/09 17. Juli 2009

Wir müssen leider draußen bleiben
Im „Literarischen Führer Deutschlands“ wird das ostdeutsche Kulturerbe völlig ausgeblendet, was zu skurrilen Stilblüten führt
Jörg Bernhard Bilke

Wer heute, im 21. Jahrhundert, eine Literaturgeschichte Deutschlands zu schreiben unternimmt, setzt sich der Lächerlichkeit aus, wenn er auf Autoren verzichtet, die in Ostpreußen und Schlesien geboren wurden und dort gewirkt haben wie Johann Gottfried Herder ( 1744–1803), Joseph von Eichendorff (1788–1857) und Gerhart Hauptmann (1862–1946). In einer solchen Literaturgeschichte auf die schlesische Barocklyrik zu verzichten, wäre undenkbar.

Noch lächerlicher wird es, wenn die Biographie der Autoren und ihre Werke aufgespalten werden in die Teile, die jeweils westlich oder östlich der heutigen Oder-Neiße-Grenze entstanden sind. Die frühen Dramen Gerhart Hauptmanns beispielsweise, die er schrieb, als er in Erk­ner bei Berlin lebte, wie die Diebeskomödie „Der Biberpelz“ (1893), dürften also genannt werden, das umfangreiche dramatische und epische Schaffen in den viereinhalb Jahrzehnten zwischen 1901 und 1946 in Agnetendorf/Schlesien aber nicht, weil die einst preußische Provinz heute zu Polen gehört. Ähnliche Verkürzungen von Leben und Werk hätte der Aufklärer Johann Gottfried Herder, geboren im ostpreußischen Mohrungen, auszuhalten. Daß er 1762/64 in Königsberg Theologie studiert und Vorlesungen bei Immanuel Kant gehört hat, daß sein erstes Buch 1766/67 in Riga erschienen ist, wäre nicht erwähnenswert, wohl aber seine Jahre als Kirchenbeamter in Bückeburg 1771/76 und in Weimar 1776/1803.

Aber gerade dieses unsinnige und jeder historischen Kontinuität widersprechende Verfahren wird im „Literarischen Führer Deutschland“ von dem Saarländer Publizisten Fred Oberhauser (geboren 1923) und dem Lüneburger Germanisten Axel Kahrs (geboren 1950)  angewandt, das im angesehenen Insel-Verlag erschienen ist. Im Geleitwort des einstigen DDR-Schriftstellers Günter de Bruyn, der in mehreren Erzählungen vor 1989/90 seine Sympathie für Flüchtlinge und Vertriebene aus Ostdeutschland bekundet hat, wird lobend erwähnt, daß „hier Deutschland nun auch literaturtopographisch wieder vereinigt“ werde. Es fragt sich nur, welcher Preis dafür zu zahlen ist. Günter de Bruyn macht die Aporien eines solchen Auswahlprinzips deutlich erkennbar, wenn er über Alfred Döblin (1878–1957) schreibt, daß man ihm „nicht nur in seinem Sterbeort Emmendingen begegnen (könne), sondern auch am Schauplatz seines berühmten Romans am Alexanderplatz in Berlin“, wobei unerwähnt bleibt, daß man ihm an seinem Geburtsort, der pommerschen Hauptstadt Stettin, in diesem Lexikon nicht begegnen kann.

Das politisch, nicht literaturgeschichtlich ausgerichtete Prinzip dieses Nachschlagwerks hat zur Folge, daß ein hochrangiger Denker, der die geistige Entwicklung der Menschheit vorangebracht hat, wie der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant (1724–1804) aus Königsberg in Preußen, dessen Denkmal noch vor der heutigen Kaliningrader Universität steht, darin nicht vorkommen darf, denn schließlich hat er niemals in seinem ganzen Leben die ostpreußische Provinz verlassen und die Oder Richtung Berlin überschritten. Der weit unbedeutendere DDR-Schriftsteller Hermann Kant dagegen wird siebenmal genannt.

Fast scheint es, als bedaure der Vorwortverfasser diesen unerbittlichen Vorgang der Ausgrenzung ostdeutscher Autoren, wenn er schreibt: „Denn wichtige deutsche Literatur wurde nicht nur im heutigen Deutschland geschrieben, sondern auch in den ehemals deutschen Ostgebieten wie Schlesien und Ostpreußen, die heute zu anderen Staaten gehören.“ Zugleich aber nimmt er diese Einsicht wieder zurück, wenn er die deutsche Exilliteratur als Gegenargument anführt und beschwichtigend meint: „Und ebenso sind die Ostpreußen Johann Gottfried Herder und Ernst Wiechert in Bückeburg, Weimar und Berlin präsent, wie die Schlesier Joseph von Eichendorff und Gerhart Hauptmann in Heidelberg, Berlin und auf Hiddensee.“

Die wissenschaftliche Leistung, die Fred Oberhauser, Axel Kahrs und ihre drei Mitarbeiter mit diesem umfangreichen Band erbracht haben, ist unbestritten. Aber es schmerzt, wenn gewichtige Passagen der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte ausgeschlossen bleiben, nur weil ihre Vertreter jenseits von Oder und Neiße geboren wurden und an der Memel oder an der Weichsel ihre Gedichte schrieben, ohne zu ahnen, daß das nach Jahrhunderten den Ausschluß aus der Kulturgemeinschaft bedeuten könnte.

Hinter dem Auswahlprinzip verbergen sich gewiß auch politische Bedenken, sich dem polnischen und russischen Vorwurf des „Kulturimperialismus“ auszusetzen. Diese Bedenken freilich, die ihre Entstehung vorauseilender Unterwerfung verdanken, sind heutzutage völlig unberechtigt. Im polnischen Schlesien und noch mehr im russischen Teil Ostpreußens wird die deutsche Kulturvergangenheit durchaus anerkannt. In Oberschlesien stehen mehrere Denkmäler für Joseph von Eichendorff, und an Johannes Bobrowskis (1917–1965) Geburtshaus in Tilsit ist eine Gedenktafel angebracht.      

Fred Oberhauser, Axel Kahrs: Literarischer Führer Deutschland. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2008, broschiert, 1.469 Seiten, 48 Euro       

Foto: Immanuel Kant, Joseph von Eichendorff, Andreas Gryphius, Gerhard Hauptmann, Johann Gottfried Herder (v. l.n.r.): Blöderweise jenseits von Oder und Neiße gewirkt

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