© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/09 24. Juli / 31. Juli 2009

Urteil zum Lissabon-Vertrag
Die Entsorgung der Bundesrepublik
Stefan Scheil

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag bewegt weiter die Gemüter. Während die einen von einem Durchbruch sprechen, der dem subtilen und versteckten Erosionsprozeß der deutschen Demokratie ein Ende setzen kann, zeigen sich andere empört oder gehen entschlossen den nächsten Schritt an. So war nach dem Urteil zu hören, Joschka Fischer habe einen „dicken Hals“. Jürgen Rüttgers forderte offensiv die „Vereinigten Staaten von Europa“, also das Ende der deutschen Eigenstaatlichkeit.

Der CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen will zu diesem Zweck sogar das Grundgesetz ändern lassen. Das wäre in der Tat ein routiniert zu bewältigender Vorgang, hat doch die deutsche Elite das Grundgesetz in mittlerweile wohl Hunderten von Punkten je nach Bedarf zurechtgeschnitten. Längst hat der Gesetzestext den Charakter einer Verfassung verloren, also eines Angelpunkts, an dem sich die Politik orientieren soll. Das Grundgesetz der Bundesrepublik ist statt dessen der unmittelbare Ausdruck des gerade herrschenden politischen Willens. Wo man mit den Änderungen nicht nachkommt, wird es rigoros übergangen, so etwa beim Herbeiführen von Neuwahlen auf dem Weg gefälschter Vertrauensfragen oder auch bei der Neuverschuldung. So ließ man sich in Berlin jüngst feiern, jetzt eine Schuldenbremse im Grundgesetz eingebaut zu haben. Tatsächlich gab es diese Grenze längst, denn es durften die neuen Schulden laut Grundgesetz nicht größer als die Neuinvestitionen sein. Wenn man sich in Berlin daran nicht halten wollte, wurde einfach die „Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ festgestellt und schon stand der Schuldenmacherei selbst in wirtschaftlichen Boomjahren trotz Gesetzeslage nichts mehr im Weg. Das wird in Zukunft kaum anders sein.

Nun also Europa. Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt, die EU dürfe undemokratisch sein, solange sie kein Staat sei. Ein europäischer Bundesstaat müsse den Deutschen aber ihre vollen demokratischen Rechte zugestehen und per Volksabstimmung zustande kommen. Jetzt kann man sich mühelos ausrechnen, daß niemandem in Brüssel viel an den demokratischen Rechten des immer noch zahlenstärksten Volks in Europa liegt. Eine angemessene Zahl an deutschen Parlamentsmandaten wird es dort sowenig geben wie ein adäquates Stimmrecht der Bundesrepublik als Bundesstaat. Das macht auch nach der neuen Rechtslage nichts, solange der ominöse Begriff „Staat“ außen vor bleibt. Insofern hat Rüttgers die Konsequenzen des Urteils nicht ganz richtig eingeschätzt und auch Joschka Fischers Hals wird bald wieder dünner werden. Das Urteil der deutschen Verfassungsrichter ebnet durchaus den Weg zu einer weiteren Vernetzung der EU in der gewohnten undemokratischen Weise.

Es wird der deutschen Elite wohl möglich sein, die Bundesrepublik stillschweigend zu entsorgen und eine irrelevant gewordene Staatshülle bestehen zu lassen. Wer daran etwas ändern wollte, müßte einen substantiellen politischen Umkehrprozeß einleiten. Dies ist nicht in Sicht.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen