© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/09 24. Juli / 31. Juli 2009

Sicherheit vor Idealismus
USA: Präsident Obama erweist sich immer mehr als Realpolitiker / Auch in der Guantánamo-Frage enttäuscht er seine linken Anhänger
Elliot Neaman

Im Wahlkampf schwingen Politiker lyrische Reden, wenn es dann ans Regieren geht, sprechen sie plötzlich eine weit prosaischere Sprache. Als demokratischer Präsidentschaftskandidat versprach Barack Obama, die US-Kampftruppen aus dem Irak heimzuholen, Sicherheit in Afghanistan zu schaffen, das Gefängnis auf dem Marinestützpunkt Guantánamo Bay zu schließen, die Folter von Terrorverdächtigen zu beenden und seine Landsleute wieder auf den rechten Weg jener ur­amerikanischen Werte zu leiten, die der Republikaner George W. Bush angeblich verraten hatte.

Längst ist die Schwarzweißmalerei eines sauberen Bruchs mit der jüngsten Vergangenheit mit den Grautönen der Realität in Konflikt geraten. Irakische Soldaten und Polizisten auszubilden, damit sie die Verantwortung für die dortige Sicherheit übernehmen können, ist eine langwierige und mühselige Aufgabe – deshalb werden wohl nicht sämtliche US-Militärs den Irak verlassen. In Afghanistan mußte Obama die Truppenstärke aufstocken, zudem hat er Geheim­einsätze in Pakistan mit den umstrittenen „Drohnen“ angeordnet, bei denen auch Zivilisten ums Leben kommen.

Von seiner Absicht, Fotos von Gefangenen in Häftlingslagern des Militärs und der CIA publik zu machen, nahm er auf Drängen von Verteidigungsminister Robert Gates (der schon unter Bush Pentagon-Chef war) Abstand. Die Veröffentlichung solcher Bilder könnte in den Konfliktgebieten des Mittleren Ostens womöglich zu neuen Ausbrüchen antiamerikanischer Gewalt führen, lautete die Begründung aus dem Weißen Haus.

Zu den Problemen, die der neuen US-Regierung die übelsten Kopfschmerzen bereiten, zählt zweifelsohne auch die Frage, was mit Guantánamo geschehen soll. Schon Bush hatte verlautbaren lassen, das Gefangenenlager schließen zu wollen, und sich dann dagegen entschieden, als ihm aufging, daß kaum ein Land die Häftlinge repatriieren wollte – und daß die wenigen, die dazu bereit waren, sich regelmäßig schwerer Verstöße gegen die Menschenrechte schuldig machten. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble beispielsweise lehnte die Aufnahme von uigurischen Guantánamo-Häftlingen ab. Auch dem Wunsch der USA nach Aufnahme eines Syrers und eines Tunesiers wollte er nicht nachkommen – der wahlkämpfende CDU-Politiker dürfte damit nicht nur die eigene Wählerklientel auf seiner Seite haben.

Mutmaßlich unschuldige Gefangene auf die Bermudas oder gar den kleinen und besonders US-treuen Südsee-Inselstaat Palau (bis 1914 Schutzgebiet des Deutschen Reiches) auszufliegen ist kaum mehr als eine Schnapsidee. Inzwischen hat Obama beschlossen, an der bisherigen Bush-Praxis festzuhalten. Weiterhin werden die Guantánamo-Häftlinge nicht als Angeklagte in einem Strafverfahren, sondern als feindliche Kombattanten behandelt und vor ebenjene Militärtribunale gestellt, für deren Einrichtung er Bush vor nicht allzu langer Zeit schärfstens kritisierte.

Wie kam es zu diesem Sinneswandel? Obama hat immer wieder großes Geschick darin bewiesen, rhetorischen Idealismus zu projizieren, um sich dann pragmatisch ein kleines bißchen links der Mitte des politischen Mainstreams zu halten. Im Fall Guantánamo lautet sein Kalkül: Zu zeigen, daß seiner Regierung die nationale Sicherheit am Herzen liegt, ist den Preis der Verstimmung seiner linken Anhängerschaft wert.

Daß bei dieser Entscheidung noch ein weiterer Faktor im Spiel war, wird indes häufig übersehen. Als studierter Verfassungsrechtler kennt Obama nämlich die Unterschiede zwischen dem US-Rechtswesen und der Gesetzeslage in anderen Ländern. In den meisten kontinentaleuropäischen Staaten etwa können Terrorverdächtige im Rahmen des bestehenden Strafrechts gefaßt und vor Gericht gebracht werden. Das dortige Strafrecht basiert in der Regel auf dem römischen sowie dem späteren Code Napoléon. Nach diesem System spielen die Richter eine aktive Rolle bei der Feststellung von Schuld oder Unschuld eines Angeklagten. Das in Großbritannien, Irland und den USA geltende Gewohnheitsrecht hingegen kennt ein antagonistisches Strafverfahren, in dem die Richter neutral bleiben, für die Einhaltung der formalen Verfahrensregeln sorgen und ansonsten das Ringen um Schuld oder Unschuld den Staatsanwälten und Verteidigern überlassen.

Kontinentaleuropäische Polizeien und Gerichte verfügen über Werkzeuge zur Terrorbekämpfung, die denen ihrer US-Kollegen weit überlegen sind. Sie können Beweise sammeln, ohne zuerst einen Durchsuchungsbefehl einholen zu müssen, Verdächtige in befristeter Untersuchungshaft einbehalten, anstatt sie gegen Kaution freilassen zu müssen, Zeugenaussagen verwenden, die auf Hörensagen beruhen, und brauchen die Beweisführung der Staatsanwaltschaft erst bei Prozeßbeginn offenzulegen.

Angeklagte vor US-Zivilgerichten haben laut dem Sechsten Zusatzartikel der Verfassung Anrecht auf eine Jury, und die Staatsanwaltschaft muß ihre Beweisführung vor Prozeßbeginn den Anwälten des Angeklagten zugänglich machen. Die dem Verfahren zugrundeliegenden Beweisstücke können für ungültig erklärt werden und dürfen dann der Jury nicht vorgeführt werden. In der europäischen Rechtsprechung hingegen trägt die Polizei, deren Arbeit von der Staatsanwaltschaft koordiniert wird, Beweisstücke zusammen und legt sie einem Richtergremium vor, das bei der Urteilsfindung gegebenenfalls Sachverständige zu Rate zieht. Während nach US-Recht alle Strafprozesse öffentlich geführt werden müssen, können sie in Europa unter bestimmten Bedingungen – wenn etwa die öffentliche Sittlichkeit oder die nationale Sicherheit gefährdet ist – unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden.

Europa hat in den vergangenen Jahrzehnten weit mehr Erfahrung auf dem Gebiet der Terrorbekämpfung gesammelt als die USA und entsprechende juristische Instrumente geschaffen. Der Zeitraum und die Bedingungen, unter denen Verdächtige in Untersuchungshaft gehalten werden können, spielen dabei eine Schlüsselrolle, denn die Gefahr, daß sie Gesetzeslücken nutzen und flüchtig werden, ist bei Terroristen viel stärker gegeben als bei gewöhnlichen Kriminellen. Ironischerweise benennt das US-Außenministerium die stetige Verlängerung der zulässigen Untersuchungshaft in Europa, insbesondere in Spanien, Frankreich, Italien und Belgien, seit 1999 als einen der weltweit beständigsten Verstöße gegen die Menschenrechte.

In manchen Ländern, darunter Deutschland, ist sogar ein Freiheitsentzug (Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB) über das festgesetzte Strafmaß hinaus zulässig, wenn der Gefangene als gefährlich eingeschätzt wird. In der Vergangenheit ging es bei derartigen Fällen zumeist um schwere Gewaltverbrechen wie Vergewaltigung oder Mord, doch ließe sich diese Praxis unschwer auch auf Terroristen anwenden. In Italien ist dies bei Terrorismus- oder Mafia-Prozessen bereits üblich. Nach US-Recht hingegen müssen Strafverfahren innerhalb von einhundert Tagen nach der Verhaftung eingeleitet werden, und nach einmal verbüßter Haftstrafe darf die Freiheit des ehemaligen Strafgefangenen nur in sehr eingeschränktem Maße beschnitten werden.

Zudem können in europäischen Staaten paramilitärische Polizeieinheiten wie die französische Gendarmerie Nationale oder die italienischen Carabinieri an der Verbrechensbekämpfung beteiligt werden, was sich bei der Fahndung nach Terrorverdächtigen als besonders sinnvoll erweist. In den USA läßt das sogenannte Posse-Comitatus-Gesetz von 1878 eine Unterstützung der Polizei durch das Militär nur in strikt begrenzten Notstandssituationen zu.

Würden die USA den Forderungen vieler Europäer nachkommen und Terrorverdächtige als Kriminelle behandeln, müßten sie nicht nur einschneidende Eingriffe in die Verfassungstradition und Rechtsprechung vornehmen, sondern auch einige Schutzrechte beseitigen, die US-Bürgern nach der Bill of Rights (den ersten zehn Zusatzartikel zur Verfassung) zustehen. Für derartige Maßnahmen gibt es kaum Unterstützung in der Bevölkerung – im Gegenteil hat sich unter der Bush-Regierung zunehmend Mißtrauen gegen die der Heimatschutzbehörde zugesprochenen Vollmachten aufgestaut. Aus diesem Grund zogen sowohl Bush als auch Obama es vor, Terrorismusverdächtige von Militärgerichten verurteilen zu lassen.

Die Entscheidung für die Weiterführung von Guantánamo und anderer Militärgefängnisse sowie die Beibehaltung der Praxis, Terrorverdächtige als „feindliche Kombattanten“ zu behandeln, erklärt sich aus den Besonderheiten des amerikanischen Strafrechts im Unterschied zum kontinentaleuropäischen. Obama hat sich bemüht, einige der Mängel dieses Verfahrens zu beheben und einige feindliche Kombattanten in ihre Heimatländer zurückzuführen. Er hat keine grundlegenden Korrekturen vorgenommen, weil dies der nationalen Sicherheit schaden könnte. Seine Regierung muß sich bereits heftigen Widerstands aus dem Kongreß erwehren, der jüngst sämtliche Mittel für die Rückführung von Guantánamo-Häftlingen für das Haushaltsjahr 2009 blockiert hat.

Ob europäische Zivilgerichte die Aufgabe der Terrorbekämpfung besser bewältigen als die US-Militärtribunale, wird sich noch erweisen müssen. Die Vorstellung, daß der Kampf gegen den Terrorismus eine Frage der Kriminalitätsbekämpfung und keine Militärangelegenheit ist, kann indes als vollkommene Verkennung der komplexen Probleme gelten, vor die sich alle westlichen Länder angesichts der neuen Ausprägungen und Ausmaße des weltweiten Dschihad gestellt sehen.

 

Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco. In der JF 22/09 schrieb er über Ermittlungen gegen ehemalige Mitglieder der Bush-Administration.

Foto: Präsident Obama, Protestkundgebung gegen Guantánamo-Gefängnis: Bundesinnenminister Schäuble gegen die Aufnahme von Gefangenen

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