© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/09 24. Juli / 31. Juli 2009

Kollektivschuld-Mythos
Mit Werturteilen sparsam umgehen
von Björn Schuhmacher

Kollektivschuld, das heißt, die Schuld einer Person aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten (Volks-)Gemeinschaft, war abendländischem Denken seit Jahrhunderten fremd. Kein ernstzunehmender Ethiker fragte danach, ob ein Volk als ganzes gegen das Moralprinzip verstoßen könne. Der im Diskurs neuzeitlicher Ethik bewährte Schuldbegriff beschreibt die verwerfliche Willensbildung eines Individuums: „Moralisch schuldig wird jemand, der mit seinen Handlungen oder Unterlassungen oder durch bloßen Vorsatz bewußt und nach freier Entscheidung gegen sein Gewissen und sittliche Normen verstößt“ (Otfried Höffe). Sogar bei gemeinschaftlich handelnden Personen verlangt diese Moralphilosophie eine individuelle Schuldermittlung. Auch Personen aus dem familiären Umfeld der Täter bleiben außer Betracht; es gibt keine Sippenhaftung.

Kritiker mögen einwenden, Familie und Volk dürften nicht in einen Topf geworfen werden. Der individualistische Schuldbegriff werde der einzigartigen Natur von Nationen nicht gerecht. Diese seien Schicksals-, Kultur- oder ethnische Gemeinschaften, die ein hohes Maß an kollektiver Identität verbürgen. Belegt werde das nicht nur durch positive Identitäten wie Patriotismus, Vaterlandsliebe oder -stolz. Auch ein spezifisch deutsches Phänomen wie der Verdruß an der eigenen Nation vermittle kollektive Identität. Überdies könne Selbstverdruß ein Ausdruck angemessener Reflexion sein. Er sei der Humus, aus dem deutsche Kollektivschuldgefühle erwüchsen, die angesichts der „Singularität“ nationalsozialistischer Verbrechen vollauf begründet seien.

Die Kritik mag einen berechtigten Kern haben. Menschen verfügen nicht nur über individuelle Fähigkeiten, Charakterzüge und Instinkte; sie existieren auch innerhalb bewußtseinsbildender Gemeinschaften. Man denke an Formationen wie Familie, Sippe, Stamm oder jenes durch eine republikanische Staatsverfassung charakterisierte Kollektiv, das die politische Theorie des Westens mit dem Begriff Nation beschreibt.

Der Mensch ist also in mehrfacher Hinsicht ein Gemeinschaftswesen, nach Aristoteles sogar ein von Natur aus staatsbildendes Wesen: „Darum ist denn auch der Staat der Natur nach früher als die Familie und als der einzelne Mensch, weil das Ganze früher sein muß als der Teil. (…) Wer nicht in Gemeinschaft leben kann oder ihrer, weil er sich selbst genug ist, gar nicht bedarf, ist selbst kein Glied des Staates und demnach entweder ein Tier oder ein Gott.“

Starke Worte, die über die Existenz einer „Kollektivschuld“ aber wenig aussagen. Auch wer von Natur aus Gemeinschaftswesen ist, muß nicht synchron mit anderen Gemeinschaftswesen schuldig werden. Selbst unvermeidbare mentale Beeinflussungen durch andere Glieder der Gemeinschaft ändern daran nichts. Begreift man Schuld − wie dargelegt − als Vorwerfbarkeit willensgesteuerten Verhaltens, so hängt die Kollektivschuldthese von ihrer Vereinbarkeit mit dem Konzept individueller Willensfreiheit ab. Dieses ist freilich umstritten. Verfügen Menschen zumindest teilweise über einen freien Willen, der es ihnen ermöglicht, sich von psychologischen, physiologischen und chemisch-physikalischen Bedingungen ihrer Existenz zu lösen und Entscheidungen zu treffen, die naturwissenschaftlich weder erklärbar noch prognostizierbar sind? Oder sind sie in ihren moralischen Entscheidungen vollständig durch diese Kausalfaktoren festgelegt, insbesondere durch ihre Gene oder ihre prägenden kindlichen Lebenserfahrungen? Letzteres behaupten die Deterministen.

Tatsächlich ist das Wort Kollektivschuld ein Stück weit aus der Mode gekommen. Aus der Büchse der Pandora kriechen verklausulierte Kollektivschuldmythen: Bevorzugt wird der Begriff einer fortwährenden kollektiven „Verantwortung“ oder „Scham“.

Möglicherweise kann der ethische Determinismus die Kollektivschuldthese zumindest in einem übertragenen Sinne retten. Es müßte dann der Nachweis gelingen, daß Deutsche − andere Völker interessieren die Kollektivschuldbefürworter ohnehin kaum − in ihren moralischen Haltungen durch ihre Nationalität „determiniert“ und furchtbare Verbrechen eines Deutschen von der Zustimmung fast aller seiner Landsleute begleitet werden. Wer solche Vermutungen absurd findet, dürfte freilich nicht falsch liegen. Kaum jemand unter den 43,9 Prozent Deutschen, die bei der letzten halbwegs freien Reichstagswahl am 5. März 1933 für die NSDAP gestimmt haben, wollte damit ein Bekenntnis zu Auschwitz oder anderen Eckpfeilern der späteren Tyrannei ablegen. Tagebücher des seit 1943 in „Judenhäusern“ lebenden Dresdner Literaturwissenschaftlers Victor Klemperer zeugen von einer überwältigenden Solidarität „ganz normaler Deutscher“ mit ihren entrechteten jüdischen Mitbürgern.

Der revisionistischer Positionen unverdächtige Historiker Peter Longerich ergänzt: „Hatte das Regime zwischen Spätsommer 1941 und Frühjahr 1943 auf den deutlichen Unwillen der Bevölkerung in der ‘Judenfrage’ mit verstärkter antisemitischer Propaganda reagiert (...), so wurde die ‘Endlösung’ ab Mitte 1943 mehr und mehr zum Unthema.“ Ende 1943 mußte Goebbels Schlägertrupps der Partei in Berliner Kneipen schicken, um die sich anbahnenden Unruhen im Keim zu ersticken.

Dies alles deutet darauf hin, daß Menschen moralische Grundentscheidungen losgelöst von ihrer Nationalität treffen. Gewiß spielen kulturelle Prägungen eine Rolle − wie bei den außerhalb patriarchalischer Gemeinschaften unvorstellbaren „Ehrenmorden“ an jungen Frauen −, aber Kultur ist nicht das gleiche wie Nation. Im übrigen folgt aus einer übereinstimmenden kulturellen Prägung noch lange kein Verhaltenskonformismus. Viele Muslime bedauern den westlichen Lebensstil ihrer Töchter, Schwestern oder Nichten, ohne daran zu denken, diese Frauen per „Ehrenmord“ ins Jenseits zu befördern.

Daraus ergeben sich Konsequenzen. Wer die Willensfreiheit nicht akzeptiert, kann in ethischen Debatten nicht sinnvoll über Schuld reden, weder über individuelle noch über kollektive. Der Terminus Schuld würde bei ihm zur Contradictio in adiecto, tauglich höchstens als politischer Kampfbegriff. Wer hingegen die individuelle Willensfreiheit proklamiert, muß konsequenterweise differenzieren. Er wird entdecken, daß das fünfjährige Kind Sabine Walter, der fünfzehnjährige Schüler Theo Schneider und die fünfundzwanzigjährige Krankenschwester Bianca Schmidt nicht ebenso schuldig sein können wie Hitler, Himmler oder Eichmann.

Deutsche Kollektivschuldphrasen entlarven sich als moderner Hexenwahn mit rassistischen Beimengungen und bittere Lebenslüge der verstörten Achtundsechziger-Generation. Obendrein fragt sich, ob so mancher Ankläger des deutschen Volkes in Wahrheit von eigenem Fehlverhalten in der NS-Zeit ablenken möchte – oder vom Fehlverhalten enger Angehöriger. Verblüffend sind etwa Kollektivschuldassoziationen des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker: „Wer seine Augen und Ohren aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, daß Deportationszüge rollten.“ Seinen NS-belasteten Vater nahm von Weizsäcker dagegen in Schutz.

Heinz Nawratil, kritischer Analytiker deutscher Schulddebatten, merkt an: „Die Pikanterie liegt hier darin, daß der Vater des Bundespräsidenten, Ernst von Weizsäcker, als Staatssekretär im Reichsaußenministerium so sehr in die Judendeportationen verstrickt war, daß die Anklage der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse (...) für ihn sogar die Todesstrafe forderte. Schließlich kam der Angeklagte mit sieben Jahren Haft davon. (...) Eine seltsame Moral: Der kleine Mann wird schon durch den bloßen Anblick der Deportationszüge schuldig. Der große Mann aber, der das grüne Licht für diese Züge gab, ist unschuldig.“

Eine erste Blaupause solcher List könnte ausgerechnet die NS-Propaganda geliefert haben. Ohne auch nur vage Informationen über den Holocaust zu liefern, suggerierte sie den Deutschen, Mitwisser und Komplizen eines gewaltigen Menschheitsverbrechens und in einer Art faustischem Bündnis auf das Fortbestehen des Regimes angewiesen zu sein. Die Alliierten, deren Kriegführung keinesfalls dem christlich-abendländischen Reinheitsgebot folgte, mißbrauchten diesen bösartigen Loyalitätsappell zur Rechtfertigung ihrer Deutschfeindlichkeit: „Dem gesamten deutschen Volk muß eingehämmert werden, daß die ganze Nation an der gesetzlosen Verschwörung gegen die Gesittung der modernen Welt beteiligt war“ (Franklin D. Roosevelt).

Roosevelt hätte Ethikunterricht bei der jüdischen Politologin und Heidegger-Schülerin Hannah Arendt (1906–1975) nehmen sollen. Klarsichtig widersteht diese der Verlockung, das deutsche Volk oder zumindest dessen Kriegsgeneration an den Pranger zu stellen: „Moralisch gesehen ist es ebenso falsch, sich schuldig zu fühlen, ohne etwas Bestimmtes angerichtet zu haben, wie sich schuldlos zu fühlen, wenn man tatsächlich etwas begangen hat. Ich habe es immer für den Inbegriff moralischer Verwirrung gehalten, daß sich im Deutschland der Nachkriegszeit diejenigen, die völlig frei von Schuld waren, gegenseitig und aller Welt versicherten, wie schuldig sie sich fühlten.“

„Ich habe es immer für den Inbegriff moralischer Verwirrung gehalten, daß sich im Deutschland der Nachkriegszeit diejenigen, die völlig frei von Schuld waren, gegenseitig und aller Welt versicherten, wie schuldig sie sich fühlten.“ (Hannah Arendt)

Tatsächlich ist das Wort Kollektivschuld ein Stück weit aus der Mode gekommen. Aus der Büchse der Pandora kriechen verklausulierte Kollektivschuldmythen: Politiker, Journalisten und Kirchenmänner der Bundesrepublik Deutschland bevorzugen den Begriff einer fortwährenden kollektiven „Verantwortung“ oder „Scham“, wenn sie das Volk ermahnen, NS-Verbrechen nicht zu vergessen.

Leerformelhaft wirkt insbesondere die „kollektive Verantwortung“, wenn sie etwas anderes bezeichnen soll als die juristische Haftung eines Staates wegen Rechtsverletzungen von Amtsträgern oder die vage „politische Verantwortung“ von Ministern, Staatssekretären und so weiter für Fehlleistungen ihrer Mitarbeiter. Zwar gebietet es eine aufgeklärte Moral, aus den NS-Verbrechen die richtigen pädagogischen Schlüsse zu ziehen und nachfolgende Generationen strikt im Geiste der Humanität zu erziehen. Diese Pflicht gilt aber nicht nur für die deutsche, sondern in gleichem Umfang und ebenso selbstverständlich auch für alle anderen Nationen. Ein solches Unrecht darf sich weder hierzulande noch irgendwo sonst in der Welt wiederholen! Mit deutscher Kollektivverantwortung hat das wenig zu tun.

Im Gegenteil: Die gehäufte Verwendung dieses Begriffs in Deutschland könnte andernorts sogar zu einem Absinken moralischer Hemmschwellen und Standards beitragen. Insbesondere könnte sie andere Völker dazu verleiten, Antisemitismus oder sonstigen Rassismus als „deutsches Phänomen“ zu begreifen und keinen vollauf überzeugenden Ethikunterricht an eigenen Schulen und Universitäten durchzuführen. Solche Befürchtungen entspringen keinesfalls nur theoretischem Kalkül. Liquidatorischer Antisemitismus gedeiht nirgendwo so ungebremst wie in der muslimischen Welt.

Wenig Ertrag bringt auch der Terminus „kollektive Scham“. Zwar verdient die Scham geschichtsbewußter Deutscher über die NS-Verbrechen Respekt und Sympathie. Sie ist aber in ihren Wurzeln ein individuelles und kein kollektives Gefühl, mögen auch noch so viele Menschen das gleiche empfinden. Wie Kollektivschuld entlarvt sich auch der Begriff kollektive Scham als widersprüchlich. Obendrein kann Scham vom Standpunkt aufgeklärter Moral ebensowenig eingefordert werden wie Reue oder alle anderen Gefühle. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“: dieser Imperativ christlicher Grundhaltung überzeugt eher als Appell denn als verbindliche moralische Verhaltensnorm (auch wenn er eine Ableitung konkreter Verhaltensnormen zulassen dürfte).

Es gibt semantisch überzeugende Wege, die NS-Tyrannei im Bewußtsein zu halten. Das Beharren auf kollektiver Verantwortung oder kollektiver Scham gehört nicht dazu. Wer ethische Urteile und Appelle mit den reichen Mitteln klarer Sprache formulieren kann, sollte nicht in die Niederungen inhaltsarmer, mißverständlicher oder plakativer Floskeln herabsteigen. Und wer die Verbrechen von Nationalsozialisten im Kontext ihres gesellschaftlichen Umfelds analysieren will, sollte redlicherweise hinzufügen, daß er nicht normative Ethik, sondern empirische Sozialforschung betreibt. Mit Wert- oder Unwerturteilen, auch unter Verwendung der Begriffe Scham und Verantwortung, sollte er dabei sparsam umgehen − erst recht, wenn er diese Begriffe auf deutsche Nachkriegsgenerationen bezieht.

 

Dr. Björn Schumacher, Jahrgang 1952, ist Jurist. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Islam und seine Integrationsfähigkeit (JF 16/08). Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um einen Auszug aus seiner Studie „Die Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg. ‘Morale Bombing’ im Visier von Völkerrecht, Moral und Erinnerungskultur“, Ares Verlag, Graz 2008.

Foto: Der Weg in den Tod: Moralisch gesehen ist es ebenso falsch, sich schuldig zu fühlen, ohne etwas Bestimmtes angerichtet zu haben, wie sich schuldlos zu fühlen, wenn man tatsächlich etwas begangen hat.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen