© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/09 07. August 2009

„…über alles in der Welt“
Vom Meer umtost: Warum das Lied der Deutschen nur auf Helgoland gedichtet werden konnte
Karlheinz Weißmann

Mir ist immer noch in Erinnerung, mit welcher Verve mein Geographielehrer im Unterricht über Helgoland sprach, und zwar nicht nur dann, wenn die Insel Thema war. Er fuhr regelmäßig dorthin, „in die Sommerfrische“ – es war um 1970 und er selbst ein älterer Herr – und begeisterte sich nicht nur für Ruhe und gutes Klima, sondern auch und gerade für die berühmten Gesteinsformationen. Und dann gab es noch den Schlußsatz: „Nur gut, daß wir es genommen haben, als der Engländer Sansibar wollte.“ Damit bezog er sich auf den Helgoland-Sansibar-Vertrag von 1890, mit dem Deutschland seine Ansprüche auf ostafrikanische Territorien, darunter die Insel Sansibar, aufgab und im Gegenzug einige kolonialpolitische Zugeständnisse sowie die Hochseeinsel vor der deutschen Küste erhielt.

Die war seit unvordenklicher Zeit von Deutschen beziehungsweise Friesen besiedelt, hatte aber eine turbulente politische Geschichte hinter sich: lange zum Herzogtum Schleswig gehörend und deshalb von Kopenhagen aus regiert, dann im Zuge der napoleonischen Kriege durch die Engländer besetzt und 1814 formell als Kolonie angegliedert. Damit waren die Helgoländer nicht die einzigen deutschen Untertanen der britischen Krone (auch Hannover gehörte durch Personalunion zu deren Machtbereich), und am alltäglichen Leben der Insel änderte sich wenig. Der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgenommene Kur- und Ferienbetrieb machte Helgoland rasch zum Anziehungspunkt für ein reiselustiges bürgerliches Publikum, das bevorzugt vom deutschen Festland kam. Heine war darunter und bekanntermaßen Hoffmann von Fallersleben, der hier 1841 das „Lied der Deutschen“ dichtete.

Die enge Verbindung Helgolands mit der Nationalbewegung wirkt deshalb sowenig zufällig, weil nicht nur seine Rückkehr 1890 eine Welle patriotischer Begeisterung auslöste, die bis weit nach Süden reichte – Anton Bruckner komponierte aus dem Anlaß ein Chorwerk „Helgoland“ –, sondern die Insel auch mit der Idee deutscher Seegeltung verknüpft wurde und immer als eine der besonders markanten Regionen Deutschlands galt.

Das nutzte man wahlweise zur Werbung für den Tourismus oder heroische Stimmungen. Kam die Insel nach dem Ersten Weltkrieg noch glimpflich davon, war ihr nach dem Zweiten ein Schicksal zugedacht, das als symbolisch für das der ganzen Nation gelten konnte: „Helgoland ist ‘bedingungslose Übergabe’ als Schulbeispiel. So hätte sie sich überall auswirken können, ja, logisch weitergedacht, auswirken müssen. … Aus Helgoland konnte die Austreibung bis zum letzten gelingen. Sie gelang auch aus den Provinzen östlich der Oder-Neiße-Linie und dem Sudetenland. Auch aus dem Ruhrgebiet war sie vorgeschlagen, und seine Industrie, seine Kohlenschächte sollten gemäß dem Programm der zweiten Konferenz von Quebec vom September 1944 das Los von Helgoland erleiden. Das war offensichtlicher Wahnwitz, und so unterblieb es. Aber Helgoland ist klein, und sein Fortfall bedeutet nicht viel für die europäische Wirtschaft. Daher konnte sich der Plan von Quebec an ihm voll auswirken.“ Die von den Briten geplante Zerstörung der Insel wäre Anwendung des „Morgenthau-Plans“ im kleinen gewesen: den Deutschen ein ewiges Menetekel, den Siegern ein wirtschaftlich und moralisch weniger bedenkliches Exempel als die Umsetzung für das ganze Reichsgebiet.

Der zitierte Passus stammt aus dem offiziellen „Bericht“, den Hubertus Prinz zu Löwenstein nach der „friedlichen Invasion“ Helgolands im Dezember 1950 durch einheimische Fischer, Studenten – auch aus der sowjetischen Zone –, einige Berufstätige und einen jungen Amerikaner veröffentlicht hat, und er zeigt, mit welcher Deutlichkeit und welcher Schärfe man damals noch die deutsche Lage beurteilen konnte. Daß Helgoland zwei Jahre später an die Bundesrepublik zurückgegeben wurde, die Royal Air Force auf weitere Übungsabwürfe verzichtete und man den Einwohnern die Heimkehr ermöglichte, wurde von der Bevölkerung mit einer Genugtuung zur Kenntnis genommen, wie man sie vergleichbar nur bei der Wiedereingliederung des Saarlands erlebte.

Es gehört zu den Seltsamkeiten der politischen Helgoland-Debatte am Anfang der fünfziger Jahre, daß sie sich mit einer anderen, wenn man so will: prähistorischen, überschnitt. Anlaß war der Erfolg des Buches „Atlantis enträtselt“, das 1953 von Jürgen Spanuth, einem evangelischen Geistlichen, veröffentlicht wurde. Spanuths These lautete kurz gefaßt: Helgoland und Atlantis seien identisch beziehungsweise Helgoland der verbliebene Rest des sagenhaften Inselreiches, das durch eine Naturkatastrophe vernichtet wurde, die dessen Einwohner zwang, nach Süden zu ziehen, wo sie im Zuge der „dorischen Wanderung“ Griechenland besetzten und im Bündnis mit anderen als „Seevölker“ bis in das Nildelta vordrangen. Eine Idee, die er mit einem erheblichen Maß an Spürsinn und Gelehrsamkeit begründete – etwa durch die Identifizierung des von Platon erwähnten Stoffes „Oreichalkos“ mit dem Bernstein – und so nicht nur ein Massenpublikum fand, sondern auch heftigen Widerspruch auslöste und sogar die akademische Archäologie und Vorgeschichtsforschung zu Stellungnahmen zwang.

Trotz des Erfolgs von Spanuth blieb der Einfluß seiner Interpretation natürlich begrenzt. Eine besondere Bedeutung Helgolands in der Vergangenheit haben aber auch viele andere vermutet. Der Name wird gelegentlich auf ein altnordisches „Heligoland“ für „heiliges Land“ zurückgeführt und manchmal eine Beziehung zur „Basileia“, also etwa „Königsinsel“ hergestellt, von der ein griechischer Autor der Antike sprach, der über die germanischen Völker handelte. Das alles führt aber in den Bereich der Spekulation und erhöht die Anziehungskraft der Insel nur um Weniges, die da vor unserer Küste liegt, schroff aufragend, und rot vor allem, und dann noch weiß und grün.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen