© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/09 07. August 2009

Stillschweigendes Einvernehmen
US-Präsident Kennedy wußte vom Mauerbau und hegte keine Absichten, wegen der Berlin-Frage eine politische Eskalation zu riskieren
Karlheinz Weissmann

Im Juni 1982 befaßte sich das „Rhöndorfer Gespräch“ der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus mit dem Thema Mauerbau. Geladen waren Historiker und Zeitzeugen. Durch die Berichterstattung über das Symposion wurde erstmals eine breitere Öffentlichkeit mit Sachverhalten konfrontiert, die zuvor nur Eingeweihten bekannt gewesen waren. Das Bild der Ereignisse um den 13. August 1961 hatte bis dahin die Vorstellung geprägt, daß Sowjetunion und DDR-Führung ein Überraschungscoup gelungen sei, Adenauer – vielleicht um dem Regierenden Bürgermeister West-Berlins, Willy Brandt, seine Mißachtung zu demonstrieren – dem Ort der Ereignisse fernblieb, die Alliierten zögerten und man zuletzt von einer schärferen Reaktion abgesehen habe, um einen Kriegsausbruch zu verhindern. Jetzt wurde diese Sicht der Dinge nachhaltig korrigiert.

Bezeichnend war schon, daß sich die Aussage Gebhardt von Walthers, der zwischen 1959 und 1962 als Botschafter der Bundesrepublik bei der Nato amtierte, man habe in deren Hauptquartier nichts von den bevorstehenden Maßnahmen zur Grenzsperre geahnt, konterkariert fand durch die Feststellung des amerikanischen Historikers Honoré Marc Catudal, daß die CIA von entsprechenden Absichten Ost-Berlins längst wußte. Auf den Einwand, im Kabinett Adenauers seien derartige Informationen nie zur Sprache gekommen, reagierte Erich Mende, damals Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion, mit dem Hinweis, er sei durch Reinhard Gehlen, den Chef des BND, schon im Frühsommer 1961 von geplanten Sperrmaßnahmen der DDR-Führung unterrichtet und dann sogar auf die Lagerung von Baumaterialien in der Nähe des Grenzverlaufs hingewiesen worden. Damit konfrontiert, hätten die Verantwortlichen aber immer abgewiegelt und erklärt, eine vollständige Abriegelung Ost-Berlins sei technisch undurchführbar.

Was im Rahmen des „Gesprächs“ auch deutlich hervortrat, war die allgemeine Angst vor einer Zuspitzung der Krise, nachdem der Mauerbau begonnen hatte. Einer der Teilnehmer äußerte unwidersprochen, man habe ernsthaft mit einer totalen Isolation und nachfolgend mit dem Verlust West-Berlins gerechnet. Einen Krieg war niemand bereit zu riskieren, obwohl das Kabinett über die Möglichkeit von Gegenmaßnahmen für den Fall eines sowjetischen Vorstoßes auf West-Berlin diskutiert hatte, bis hin zum Aufmarsch von Panzerverbänden über die Autobahn Helmstedt-Berlin und den Einsatz taktischer Atomwaffen. Daß ein solches Vorgehen nicht ohne Zustimmung der USA möglich war, stand allerdings außer Frage. Eugen Gerstenmaier, der damalige Bundestagspräsident, meinte leicht resigniert: „Helden waren wir alle miteinander nicht“, und: „Unsere ganze, verzweifelte Weisheit war, sie war dürr und dürftig genug: Die Amerikaner müssen das Fluchtloch Berlin offenhalten.“

Daß die dazu wenig Bereitschaft zeigten und die „three essentials“ – Anwesenheitsrecht der Alliierten, Zugangsrecht und Wahrung der Sicherheit der Bürger Berlins –, die Kennedy gegenüber Chruschtschow beim Wiener Gipfel im Juni 1961 formuliert hatte, faktisch nur für West-Berlin galten, wurde den Verantwortlichen in Bonn erst allmählich klar. Das war Teil einer außenpolitischen Desillusionierung, die sich nach dem Amtsantritt Kennedys im Januar des Jahres Stück für Stück vollzog. Das Verhältnis zwischen dem neuen Präsident und Adenauer stand von Anfang an unter einem schlechten Stern. Adenauer spürte instinktiv, daß die Amerikaner eine Kurskorrektur in ihrer Außenpolitik planten, die das Gewicht der Bundesrepublik mindern würde. Obwohl die Einzelheiten des Vorgangs nicht mehr zu klären sind, spricht vieles dafür, daß Kennedy Adenauer regelrecht verboten hat, angesichts des Mauerbaus mit dem von ihm entsandten Vizepräsidenten Johnson nach Berlin zu reisen.

Das Verhalten Kennedys in diesem Kontext lag in der Logik jener Haltung, die er auch sonst in bezug auf die Berlin-Krise einnahm. Aus dem Umfeld des Präsidenten wurde später bekannt, daß er den Bau der Mauer fast mit einer gewissen Befriedigung, jedenfalls erleichtert zur Kenntnis genommen hat. Militärische Maßnahmen lehnte er ab, einen Brief Brandts vom 16. August beantwortete er nur kühl-distanziert. Seine Berater mußten erst mit Nachdruck auf die negative psychologische Wirkung hinweisen, die das Desinteresse der USA sowohl bei den Sowjets als auch bei den Deutschen haben würde. Allein die Sorge vor diesem Effekt brachte Kennedy dazu, wenigstens symbolische Schritte zu unternehmen: eine Protestnote gegenüber der Sowjetunion, die die der westlichen Stadtkommandanten unterstützte, die Veranlassung der erwähnten Mission Johnsons und die Entsendung von Lucius D. Clay, des Helden der „Luftbrücke“ von 1948, der 1.500 Mann der 8. US-Infanteriedivision von Mannheim aus nach Berlin führte, um Entschlossenheit zu demonstrieren.

Keine dieser Maßnahmen Kennedys kann von der Gesamtstrategie getrennt werden, die die USA gegenüber dem kommunistischen Block verfolgten, nachdem im Frühjahr 1961 die Invasion auf Kuba, das „Schweinebuchtunternehmen“, gescheitert war. Der Verzicht, eigene Truppen einzusetzen und in dem Fall einen direkten Zusammenstoß mit der sowjetischen Schutzmacht Kubas zu riskieren, hing mit der Furcht zusammen, daß ein solcher Schritt eine unkontrollierbare Eskalation auslösen würde. Später meinte Kennedy: „Atommächte müssen, während wir unsere eigenen Lebensinteressen verteidigen, Konfrontationen vermeiden, die einen der Gegner vor die Wahl zwischen einer demütigenden Niederlage oder einem nuklearen Krieg stellen.“

Daß mit den „eigenen Lebensinteressen“ nur die der USA gemeint waren, hat Kennedy zwar zu kaschieren versucht, aber seine engsten Verbündeten in der Nato konnte er nicht täuschen. Der britische Premier Harold MacMillan ging von der Solidarität der angelsächsischen Mächte und der Wahrung der „besonderen Beziehungen“ aus und schloß sich deshalb der US-Position an, während Adenauer und Frankreichs Staatspräsident de Gaulle opponierten, weil beide fürchteten, eine Politik der „Détente“ – der „Entspannung“ – zwischen USA und UdSSR werde ihnen Nachteile bringen.

Adenauer mußte dann im Verlauf der Berlin-Krise die bittere Erfahrung machen, wie wenig man in Washington noch bereit war, eine harte Linie gegenüber dem Ostblock zu verfolgen und der Deutschen Frage eine gewisse Priorität einzuräumen. Aber er konnte kaum ahnen, wie weit die Annäherung zwischen den feindlichen Supermächten bereits gediehen war. Der Historiker Rolf Steininger hat in den Akten des State Department ein geheimes Schreiben des US-Botschafters in Moskau, Llewellyn Thompson, an den Außenminister Dean Rusk vom 16. März 1961 gefunden, das eine entgegenkommende Haltung gegenüber Chruschtschow vorschlägt und mit der Empfehlung endet: „Als absolutes Minimum schlage ich vor, der Präsident diskutiert mit Chruschtschow die Möglichkeit, daß beide Seiten das Berlin-Problem entschärfen, und zwar durch einseitige Aktionen ohne formale Übereinkunft.“ Worin die „einseitigen Aktionen“ bestehen sollten, ist nicht mehr feststellbar, da der Rest des Textes geschwärzt wurde. Es bedarf aber keiner besonderen Phantasie, um sich die Empfehlung des US-Diplomaten angesichts des Flüchtlingsstroms aus der DDR und der Destabilisierung des Ost-Berliner Regimes vorzustellen.

Wenn eingangs darauf hingewiesen wurde, daß im Geschichtsbild der Westdeutschen jeder Hinweis auf das stillschweigende Einvernehmen zwischen USA und Sowjetunion fehlte, so gilt das keineswegs für die politisch Verantwortlichen. So schrieb Willy Brandt über ein Gespräch mit US-Außenminister John Foster Dulles im Februar 1959, dieser habe ihm schon zweieinhalb Jahre vor dem Mauerbau erklärt, „die Russen und wir mögen uns über tausend Dinge uneinig sein. Doch über eines gibt es zwischen uns keine Meinungsverschiedenheit: Wir werden es nicht zulassen, daß ein wiedervereinigtes, bewaffnetes Deutschland im Niemandsland zwischen Ost und West umherirrt“. Damals, so Brandts Kommentar, habe er begriffen, daß die USA und die Sowjet­union, jenseits aller ideologischen Behauptungen, von der Existenz zweier Interessensphären in Europa ausgingen, die in Deutschland aneinander grenzten und deren Integrität sie sich wechselseitig bestätigten.

Die geheime Übereinkunft der Supermächte spielt auch heute für die Interpretation des „Kalten Krieges“ kaum eine Rolle, der nach landläufiger Überzeugung 1945 begann und 1989 endete. Dabei ist die Interpretation der Jahrzehnte nach Kriegsende unter dem Aspekt eines amerikanisch-sowjetischen „Kondominiums“ (Raymond Aron) oder einer Jalta-Ordnung auf „höherer Ebene“ (Andreas Hillgruber) ungleich plausibler als die Vorstellung, es hätten sich die beiden Kontrahenten die ganze Zeit in einer bipolaren Welt unversöhnlich gegenübergestanden. Die innere Abwehr gegenüber dieser Deutung hat sicher auch psychologische Gründe, denn sie zwänge die Deutschen, ihren politischen Weg mit anderen Augen zu sehen und klarer zur Kenntnis zu nehmen, wie wenig die deutsche Teilung mit moralischen, wieviel sie mit Machtfragen zu tun hatte.

Der Publizist Johannes Gross merkte übrigens einmal an, der unpolitische Charakter der Deutschen, lasse sich auch dadurch illustrieren, daß sie freiwillig nach jemandem wie Kennedy Straßen, Brücken und Plätze benannten.

Foto: Sowjet- und US-Panzer stehen sich Ende Oktober 1961 an der Berliner Sektorengrenze gegenüber: Theaterdonner für das Volk

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