© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/09 14. August 2009

Ketzerische Thesen gegen Sir Isaac Newton
Eine Regel hatte bislang universellen Bestand: die Gravitation – nun zweifeln Bonner Physiker selbst dieses Gesetz an
Michael Manns

Sechs Herzöge trugen den Sarg in die Londoner Westminster Abbey. Sie gaben die Ehre einem ganz Großen der Wissenschaft: Sir Isaac Newton (1643–1727). Das Bild, das er uns vom Kosmos gab, ist in wesentlichen Zügen bis heute gültig. Die Aufklärung stilisierte ihn zum Idol reiner Rationalität, fast zu einem Halbgott der Naturwissenschaft, der alle Weltprobleme durch Verstand und Experiment zu lösen vermochte. Doch jetzt erfolgte eine Attacke auf diese britische Ikone der Physik. Das Herzstück seiner Forschungen, die Gravitationstheorie, sei nicht haltbar. Newton droht vom Thron gekippt zu werden. Pavel Kroupa vom Argelander-Institut für Astronomie der Universität Bonn und sein ehemaliger Mitarbeiter Manuel Metz begehen diese Blasphemie (zusammen mit Gerhard Hensler, Christian Theis sowie Helmut Jerjen aus Canberra). Ihre Artikel erschienen 2009 im Astrophysical Journal und den Monthly Notices der Royal Astronomical Society.

Um die wissenschaftliche Blasphemie (sogar die Uni Bonn spricht in einer Pressemitteilung von „ketzerischer These“) zu verstehen, muß man den Umweg über die „dunkle Materie“ wählen. Physiker haben in ihrer Begriffsbildung ja durchaus Humor: So gibt es neben braunen Zwergen, schwarzen Löchern, dunkler Energie eben auch dunkle Materie. Vor rund einhundert Jahren fingen die Astronomen an, die Milchstraße und ihre Galaxien zu untersuchen. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts konnte man mit den neuen Radiosyntheseteleskopen Spiralgalaxien sehr genau untersuchen.

Doch die Rotationen dieser himmlischen Systeme verhielten sich eigenwillig, sie gehorchten einfach nicht Newton – so wie er die Wirkung der Schwerkraft formuliert und in quasi eherne Gesetze gegossen hat. Der Ausweg: Die Forscher führten nicht sichtbare Massen ein, eben die „dunkle Materie“. Seitdem geistert sie durch die Naturwissenschaften, konnte aber noch nie direkt nachgewiesen werden. Und keiner weiß genau, was sie ist. Sie soll fast ein Viertel der Masse des Universums ausmachen – ein enormer Anteil.

Kosmologen sannen nach einer Alternativlösung. Und so fingen einige an, die Existenz der Geistermaterie anzuzweifeln. Es wurden konkurrierende Gravitationstheorien entwickelt, die ohne dieses ominöse dunkle Konstrukt auskommen. Jetzt kommt aber die Blasphemie: Sie stehen in Konflikt mit Newtons Gravitationstheorie. „Möglicherweise lag Newton aber tatsächlich falsch“, erklärt Kroupa. „Seine Theorie beschreibt zwar die Alltagseffekte der Schwerkraft auf der Erde, die wir sehen und messen können. Die tatsächliche Physik hinter der Gravitation kennen wir aber vielleicht noch gar nicht.“

Nicht erklärbare Phänomene bei Satellitengalaxien

In den aktuellen Studien untersuchten die Forscher die Satellitengalaxien der Milchstraße. Dabei handelt es sich um Zwerggalaxien, die teilweise nur ein paar tausend Sterne enthalten. Die Physiker fanden heraus: „Zunächst einmal stimmt etwas nicht mit ihrer Verteilung“, erklärt Kroupa. „Eigentlich sollten die Satelliten gleichmäßig um ihre jeweilige Muttergalaxie angeordnet sein. Das sind sie aber nicht.“ Genauer gesagt: Die klassischen Satelliten der Milchstraße liegen alle mehr oder weniger in derselben Ebene. Sie bilden also eine Art Scheibe. Zudem konnten die Forscher zeigen, daß die meisten von ihnen in derselben Richtung um die Milchstraße rotieren – ähnlich wie die Planeten um die Sonne.

Dieser Befund läßt sich nach Ansicht der Physiker nur so erklären, daß die Satelliten vor langer Zeit bei der Kollision junger Galaxien entstanden sind. „Aus dem ‘Schrott’, der bei einem solchen Crash entsteht, können sich rotierende Zwerggalaxien bilden“, erläutert Manuel Metz. Doch jetzt kommen die Haken: Die Satelliten, die dabei entstehen, können keine dunkle Materie enthalten. Das beweisen spezielle theoretische Berechnungen. Der zweite Haken: „Die Sterne in den jetzt untersuchten Satelliten bewegen sich viel schneller, als sie es nach den Berechnungen dürften. Als Ursache kommt aus klassischer Sicht eigentlich nur die Anwesenheit dunkler Materie in Frage“, sagt der Bonner Astronom Metz.

Gravitationstheorie unsicher in Extremsituationen

Dunkle Materie – ja oder nein? Wie kommt man aus dem Dilemma heraus? Kroupa: „Eine Lösung gibt es nur, wenn wir uns von der klassischen Gravitationstheorie Newtons lösen. Wahrscheinlich leben wir in einem nicht-Newtonschen Universum. Wenn diese Annahme stimmt, lassen sich unsere Beobachtungen auch ohne dunkle Materie erklären.“ Und der renommierte Astrophysiker Bob Sanders von der Universität Groningen sekundiert: „Sie widersprechen diametral den Vorhersagen der Dunkle-Materie-Hypothese. Nur selten sind Beobachtungsdaten so definitiv.“

Die Gravitationstheorie der britischen Ikone wurde in Extrembereichen in der Vergangenheit schon mehrfach ins Wanken gebracht: bei hohen Geschwindigkeiten (durch die Theorie der speziellen Relativität), in der Nähe großer Massen (durch die allgemeine Relativitätstheorie) und bei sehr kleinen Raumabständen (durch die Quantenmechanik).

Die Kosmologen können den aktuellen Disput der Modelle jedoch gelassen austragen. Wäre Newton noch am Leben, hätten sie keine ruhige Minute. Er würde seine Gegner erbittert jagen und vor keiner Intrige zurückscheuen. Der tendenziell psychotische Eigenbrötler verfolgte alle Kritiker oder Konkurrenten (wie Huygens oder Leibniz, der zeitgleich wie er die Infinitesimalrechung entdeckte) mit krankhaftem Haß und Eifersucht.

Foto: Grab von Isaac Newton in der Westminster Abbey in London: „Wahrscheinlich leben wir in einem nicht-Newtonschen Universum. Unsere Beobachtungen ließen sich auch ohne dunkle Materie erklären.“

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