© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/09 21. August 2009

Souverän nach Europa
Die europäische Integration Deutschlands darf keinen Verzicht auf eigene Staatlichkeit bedeuten
Doris Neujahr

Ein Urteil des Verfassungsgerichts war nötig, um die politische Klasse hierzulande an das Selbstverständliche zu erinnern: Die Quelle ihrer Legitimität ist der deutsche Wähler und niemand sonst! Ihre Existenzberechtigung steht und fällt folglich damit, ob sie dieser Pflicht nachkommt. Der Staat auf deutschem Boden bildet das politische und rechtliche Gehäuse des deutschen Volkes, ist also keine Verfügungsmasse einer angemaßten „Elite“ – deren intellektueller und habitueller Zuschnitt übrigens dazu zwingt, den Begriff in Anführungszeichen zu setzen.

Die Integration Deutschlands in ein freiheitlich verfaßtes Europa ist möglich, aber sie ist das Gegenteil einer Unterwerfung und bedeutet keinen Verzicht auf die eigene Identität. Weil eine Souveränitätsübertragung auf ein neues, europäisches Legitimationssubjekt unwiderruflich wäre, untersteht sie „allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes“, also einer Volksabstimmung. Alles andere wäre illegitim: ein kalter Staatsstreich, der das grundgesetzlich verbürgte Widerstandsrecht herausfordert!

Die politische Klasse führt parteiübergreifend Krieg gegen diese Selbstverständlichkeiten. Der Bundestag ist zur Abnick-Maschine für Brüsseler Vorlagen verkommen. Transparenz gibt es nicht, daher ist es überaus wahrscheinlich, daß viele Papiere der Eurokratie auf einen Wink der deutschen Exekutive zurückgehen, die sich Debatten ersparen will. Das Totschlagargument lautet dann: Die Vorgaben der EU müßten „umgesetzt“ werden. So wird die Gewaltenteilung ausgehebelt und der politische Prozeß auf einen technokratischen Vorgang reduziert. Das Ergebnis sind europäische Haftbefehle, Gesinnungs- und Antidiskriminierungsvorschriften, die die Freiheit des Individuums latent bedrohen und sein Verhalten normieren.

Die Karlsruher Selbstverständlichkeiten stellen für die politische Klasse eine Provokation dar. Zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung ist sie weder willens noch fähig. Frech wird gefordert, das Verfassungsgericht in europäischen Angelegenheiten zu entmachten und seine Besetzung neu zu regeln, was nur heißen kann: mit politisch willfährigen Richtern. Und die CSU ist zu sehr Fleisch vom Fleische des Politik-Kartells, als daß der gerichtliche Erfolg ihres Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler (siehe Interview auf Seite 3) mehr bedeuten könnte als wahlkampftauglichen Theaterdonner. Schon höhnt Zeit online, bei den fälligen Korrekturen des Lissabon-Vertrags dürfte nicht mehr herauskommen „als ein paar Formeln, die den Bayern die Gesichtswahrung erlauben“.

Das Selbstverständnis und die Motivation, die dahinterstehen, lassen sich einem Zeitungsbeitrag des früheren Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof, Carl Otto Lenz, entnehmen. Lenz ist CDU-Mitglied und war von 1969 bis 1980 Vorsitzender des Rechtsausschusses des Bundestags. Er unterstellt den Verfassungsrichtern ein Fehlurteil und Kompetenzüberschreitung. Sie seien von der falschen Voraussetzung ausgegangen, daß der Parlamentarische Rat „den Grundstein für einen souveränen Nationalstaat legen wollte“. Das Gericht verwende das Wort „souverän“ 33mal, während es im Grundgesetz gar nicht vorkomme.

Wie denn auch? Der Parlamentarische Rat und die neugegründete Bundesrepublik standen unter alliierter Aufsicht. Heute dagegen geht es doch wohl um die Frage, ob Deutschland als ein freies Gemeinwesen etwas von seiner nationalen Souveränität abgibt, um auf höherer Ebene ein klar definiertes Mitspracherecht zu etablieren. In Lenzens Interpretation dagegen ist es das Schicksal der Deutschen, als Unfreie in einen höheren Zustand der Fremdbestimmung einzutreten.

Für die europäischen Länder, die sich einzeln und in der Summe in der Defensive befinden: politisch, wirtschaftlich, kulturell, psychologisch, demographisch, ist es eine Notwendigkeit, sich in gemeinsamen europäischen Strukturen zusammenzufinden. Das wird durch die weltweite Konkurrenz der Großräume erzwungen. Der Bedeutungsverlust Europas begann Ende des 19. Jahrhunderts, was die Staaten nicht davon abhielt, sich noch fünfzig Jahre lang der Selbstzerfleischung zu widmen. „Wie die Kristalle einer Druse ihre Köpfe gegeneinander wenden, so wenden die Glieder unserer Staatenfamilie ihre Energie nach innen gegeneinander; niemals jedoch solidarisch miteinander nach außen“, schrieb der Historiker Ludwig Dehio. Überdies wurden die Amerikaner und Russen in die innereuropäischen Machtkämpfe hineingezogen, mit dem Ergebnis, daß beide sich 1945 den Kontinent teilten.

Das schloß die Teilung von Europas Herzland ein – eine Tatsache, die auf das europäische Spezialinteresse Deutschlands verweist, das zu klein ist für eine europäische Hegemonie, aber zu groß, um den Nachbarn ohne weiteres erträglich zu sein. Als der gewiß unverdächtige Max Scheler 1917 das Buch „Die Ursachen des Deutschenhasses“ verfaßte, kam er darauf, daß die jahrhundertelange politische Ohnmacht den Deutschen nur die Wahl gelassen hatte, hart zu arbeiten und die Arbeit als Quelle der Freude zu akzeptieren. Seit 1871 das Deutsche Reich dem deutschen Arbeitsethos einen machtpolitischen Rahmen bot, explodierten seine Energien in einem Maße, daß es den Nachbarn den Atem verschlug und die Deutschen zunehmend unbeliebt wurden. Aus dieser Perspektive könnten selbst die EU-Nettozahlungen, durch die Deutschland einen Teil seines anhaltenden Leistungsvorsprungs anderen zukommen läßt, eine politisch sinnvolle Investition sein – wenn, ja wenn ein kluges europäisches Konzept damit verbunden wäre.

Doch den deutschen Europa-Visionären geht es erstens um die Abwicklung Deutschlands und zweitens um die Etablierung eines technokratischen Regimes mit Sitz in Brüssel, das die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten anonymisiert, verwässert und die Unzuständigkeit der politischen Klasse unsichtbar und unkontrollierbar macht.

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