© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/09 21. August 2009

Scham für den Holocaust als Eintrittsbillett
Experten sind sich sicher: Wenn jugendliche Einwanderer endlich die deutsche Erinnerungskultur adaptieren, klappt’s auch mit der Integration
Thorsten Hinz

Das Buch erinnert an eine Geschichte, gefunden in „Maske und Mimesis“ von Günter Zehm: Ein dreijähriges Mädchen spielt „Lokomotive“, indem es einige Stühle hintereinander zum „Zug“ formiert, auf dem vordersten Platz nimmt und nun mit Husch und Zisch die Lok vorgibt. Der Vater kommt hinzu, ist gerührt und gibt der Tochter einen Kuß, worauf die Kleine sagt: „Papi, du darfst die Lokomotive nicht küssen, sonst denken die Wagen, sie wäre nicht echt.“ Damit das Spiel funktioniert, darf die vorausgesetzte Illusion nicht durchbrochen werden.

Hier lautet das Spiel: „Historisches Bewußtsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft“, nur sind die Autoren sich des Illusionscharakters ihres Treibens gar nicht bewußt. Crossover bedeutet soviel wie: Überschneidung, Kreuzung. Ein gemeinsames Geschichtsbewußtsein soll durch „interkulturelles Geschichtslernen“ geschaffen werden. Das Foto auf der Frontseite gibt die Richtung vor: Ein Jugendlicher in Hiphop-Anmutung hüpft über die Stelen des Berliner Holocaust-Denkmals. Die deutsche Geschichte erschöpft sich in der NS-Zeit. Mitherausgeberin und Autorin Viola B. Georgi ist Juniorprofessorin mit den Schwerpunkten „Interkulturelle Bildung, Demokratiepädagogik, Migrationsforschung und Holocaust Education“. Soviel zu ihrem historischen Expertentum. Der zweite Mit-Herausgeber wird als Historiker vorgestellt – mit Schwerpunkt Migration. Andere Beiträger arbeiten im Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust oder an einer Pilotstudie zum Themenfeld „Migrantinnen und Migranten im Politikunterricht“, ein weiterer ist Experte für „Interkulturelle Museumsarbeit“ usw. usf.

Für das „interkulturelle Lernen“ gibt Juniorprofessorin Georgi ein Beispiel: Bülents Gymnasialklasse fährt in das ehemalige Getto Theresienstadt. Bülent besteht darauf mitzufahren, obwohl seine deutschen Mitschüler darüber witzeln, „so als gelte für die Auseinandersetzung mit dem industriellen Massenmord ‘Germans only’“. In Theresienstadt macht er „die Erfahrung, plötzlich als Teil des deutschen Mitläufer-, Täter- und Zuschauerkollektivs angesehen zu werden. (...) Die erfahrene Zuschreibung als Deutscher läßt Bülent den ‘Türken in sich’ (...) vergessen.“ Sein „diffuses Unbehagen“ führt „am Ende doch (zur) erfolgreichen Aneignung der NS-Geschichte, die sogar in Schuldgefühlen gipfelt“ und damit „identitätskonkret“ wird. Durch seine „Teilhabe an der Erinnerung an die Shoah“ hat Bülent „das Eintrittsbillett in die Mehrheitsgesellschaft gefunden“.

Hat er das? In welche „Mehrheitsgesellschaft“ überhaupt? Könnte es sich bei dem 16jährigen Bülent nicht einfach um einen intelligenten und raffinierten Schlingel handeln, der genau begriffen hat, daß es in Deutschland darauf ankommt, öffentlich Schuldgefühle zu heucheln? Doch anders als die ethnischen Deutschen, deren Selbst mit dem Schuldgefühl durch jahrzehntelange Indoktrination unauflöslich miteinander verschmolzen ist, besitzt er dank seiner Herkunft eine natürliche Reserve dagegen, daß die psychische Manipulation in sein Inneres dringt. Er hat seine Heuchelei in der Hand und nicht umgekehrt. Es wäre naheliegend, daß bald der stolze Türke in ihm erwacht, der die Deutschen, die versessen darauf sind, als „Teil des deutschen Mitläufer-, Täter- und Zuschauerkollektivs“ stets auf neue „identitätskonkret“ gemacht zu werden, herzlich verachtet und sie seine Überlegenheit spüren läßt. Schon längst verleihen Ausländer in Sozialämtern und Klassenzimmern ihren Forderungen mit Begriffen wie „Scheiß-Deutsche“ oder „Nazi“ Nachdruck, gegen die die schuldbewußten Deutschen wehrlos sind. Juniorprofessorin Georgi sollte, ehe sie sich erneut an einem so komplizierten Thema verhebt, damit beginnen, über die Umkodierung des Wortes „Opfer“, das für die deutsche Geschichts- und Gesellschaftspolitik zentral ist, als ein gegen deutsche Kinder und Jugendliche gerichtetes Schimpfwort nachzudenken. Oder über ihr eigenes manipuliertes Selbst.

Natürlich werden sie und ihre Mitstreiter das nicht tun. Sie rücken weiter Stühle zusammen, machen Husch und Zisch und ganz laut Tuuut und glauben, sie seien auf gutem Wege! Die Verinnerlichung der Schuldheuchelei hat zu einer unverbrüchlichen Einheit von Infantilität und Erwachsenalter geführt. Passend dazu überschrieb Volker Zastrow neulich in der FAZ einen Kommentar zum 60. Jahrestag des Grundgesetzes: „Im Spielzeugland“

Viola B. Georgi, Rainer Ohliger (Hrsg.): „Cross-over Geschichte“. Historisches Bewußtsein in der Einwanderungsgesellschaft. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2009, broschiert, 256 Seiten, 16 Euro

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