© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/09 28. August 2009

Das Trauma
Geschichtsdenken: Die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges wirkt bis heute nach
Thorsten Hinz

Am 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs wird Kanzlerin Merkel sich zu einer Gedenkveranstaltung in Danzig einfinden. Dort wird sie verbreiten, was sie eben auf einer Vertriebenenveranstaltung sagte: daß die Vertreibung „unmittelbare Folge deutscher Verbrechen“ war und es „kein Umdeuten der Geschichte“ gibt.

Zahlreiche deutsche Politiker, Künstler, Historiker, Journalisten – keineswegs nur die üblichen Verdächtigen –­ haben jetzt eine Erklärung veröffentlicht, wonach die Verantwortung für die „Abermillionen Menschen, die dem Krieg zum Opfer fielen“, allein bei den Deutschen liegt. Auch hätte es „ohne den von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkrieg weder die kommunistischen Diktaturen in Ostmitteleuropa noch die Teilung des Kontinents und Deutschlands gegeben“. Die Titelseite der aktuellen Spiegel-Ausgabe bringt die Geschichtsdeutung der politischen, wissenschaftlichen, künstlerischen, publizistischen Elite des Landes schmissig auf den Punkt: „Der Krieg der Deutschen. Als ein Volk die Welt überfiel“. Eine kleine Auswahl von Stilblüten, aus der sich ergibt: Der deutsche Fisch stinkt vom Kopf her – und wie!

Gerd Schultze-Rohnhof und Stefan Scheil haben nicht nur in dieser Zeitung dargelegt, wie unsinnig die These von der deutschen Alleinschuld ist, in wie vielen internationalen Fallstricken sogar Hitler gefangen war. In Deutschland bündelten sich nationalpolitische mit europäischen und globalen Konflikten. Da war die bekannte Neigung der europäischen Länder, sich gegen die stärkste Kontinentalmacht zusammenzuschließen, um dessen Hegemonie zu verhindern. Seit 1871 war das Deutschland. Reichsgründer Bismarck versuchte virtuos, schließlich verzweifelt, dem Alptraum der Koalitionen („Cauchemar de coalitions“) Herr zu werden. 1914 waren seine Nachfolger damit am Ende.

Zweitens sah Alexis de Tocqueville bereits 1835 voraus, daß Amerikaner und Russen „durch einen geheimen Plan der Vorsehung dazu berufen“ schienen, eines Tages jeweils „die Geschicke der Hälfte der Welt“ in den Händen zu halten. Das schloß die Teilung Europas ein. Ein europäischer Block hätte diesen Plan gestört, womit Deutschland, das diese Geschlossenheit am ehesten zustande bringen konnte, für die Supermächte in spe der potentielle Hauptfeind war.

Karl Marx hielt schon 1860 Entwicklungen für denkbar, durch die „wir Deutsche (...) Ost- und Westpreußen, Schlesien, Teile von Brandenburg und Sachsen, ganz Böhmen, Mähren und das übrige Österreich außer Tirol (wovon ein Teil dem italienischen ‘Nationalitätsprinzip’ zufällt) und unsere nationale Existenz“ verlieren. Er prognostizierte eine deutsche Zweiteilung und zwischen den sich „befehdenden Deutschlands“ einen neuen Dreißigjährigen Krieg. Kurzum, der deutsche Nationalstaat stand, ganz unabhängig von seinem inneren Regime, stets vor der Existenzfrage! Das dritte Element war die Ideologisierung, die den Staatenkrieg intensivierte, vergiftete und zum „Europäischen“, dann zum „Weltbürgerkrieg“ (Ernst Nolte) werden ließ.

Schon die Niederlage von 1918 hatte das deutsche Selbstwertgefühl schwer erschüttert und Zweifel an der Beständigkeit des Reiches genährt. Die Zustimmung, die Hitlers Außenpolitik in der Bevölkerung zeitweilig fand, hing damit zusammen. Wenn der Nationalstaat sich mit den Mitteln der Realpolitik nicht bewahren ließ, dann vielleicht durch die Fähigkeiten des Schamanen?

Mit der totalen Niederlage war 1945 auch diese Frage beantwortet. Offenbar gab es keine Möglichkeit, ein geeintes Deutschland und seine Interessen mit denen der anderen und mit den großen Welttendenzen in Übereinstimmung zu bringen. Die Deutschen waren, mit dem Wort Arnold Gehlens, „widerlegt“, so daß der nationalkonservative Historiker Gerhard Ritter resigniert feststellte: „Irgend etwas muß doch wohl in unserem politischen Leben von jeher verfehlt oder doch wenigstens gefährlich gewesen sein, wenn wir so oft und jedesmal so gründlich in Abgründe und Katastrophen hineingeraten sind.“ Und so forderte er die „totale Umstellung unseres deutschen Geschichtsdenkens“.

Die Umstellung ist mit deutscher Gründlichkeit erfolgt. Die oktroyierte Akzeptanz der Alleinschuld hat sich zu einer umfassenden Schuldmetaphysik gesteigert. Diese bildet heute das Mittel, dem blutigen Fatalismus der eigenen Geschichte zu entgehen. Die Deutschen wollen und müssen daran glauben, daß Teilung, Zerstörung und Verstümmelung des Landes, die Gefallenen und Bombentoten eine angemessene Strafe für mutwillig begangene eigene Verbrechen waren. Eine virtuelle, blitzartige Erkenntnis, daß ihnen, den Besiegten des internationalen Bürgerkriegs, ihr Leid von keiner sittlichen Instanz, sondern vom kalten Gesetz der Macht zudiktiert wurde, hätte ihren moralischen Zusammenbruch zur Folge. Sogar das Gesindel, das alljährlich in Dresden „Do it again, Bomber-Harris“ skandiert, muß daher als Strandgut des Weltkriegs begriffen werden.

Aktuelle Versuche, neues nationales Selbstbewußtsein zu demonstrieren, waren folgenlos, weil sie zu diesen fatalen Voraussetzungen gar nicht vordrangen, geschweige denn sie außer Kraft setzten. Als Kanzler Gerhard Schröder 2004 am „D-Day“, dem 60. Jahrestag der alliierten Landung in der Normandie, die deutsche Gleichberechtigung gegenüber den ehemaligen Kriegsgegnern vor Ort demonstrieren wollte, zementierte er nur die deutsche Verwirrung, indem er seinen Auftritt damit einleitete, daß er die Geschichtsmetaphysik und die darin enthaltene Zuschreibung der Alleinschuld ausdrücklich annahm.

In Deutschland bildet ein falsches Bewußtsein vom Zweiten Weltkrieg die Grundlage der politischen, psychischen und physischen Existenz – und stellt sie zunehmend in Frage. Denn aus kollektiver Verwirrung wird Kollektivwahn, der kein rationales Handeln erlaubt. Am 1. September werden wir hören und sehen, in welchem Krankheitsstadium wir uns befinden.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen