© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/09 28. August 2009

Moderne Bilderstürmer
Kannibalismus in unserer Zeit
von Erik Wollin

Ernst Moritz Arndt soll es an der Greifswalder Universität an den Kragen gehen. Schon im November 1998 hatte die Zeit zur Jagd auf den „fatalen Patron“ geblasen. Nun scheint es – nachdem die frühen Signale in Kolloquien versickerten (JF 41/01) – ernst zu werden. Auf einer studentischen Vollversammlung am 17. Juni dieses Jahres hatten nach eifriger Basisarbeit von Grünen, Jusos und anderen linken Aktivisten über 90 Prozent der mehr als 1.200 anwesenden Studenten gegen den Universitätsnamen votiert. Auf einer folgenden Sitzung des Studentenparlaments (offiziell: Studierendenparlaments) wurde dieser Beschluß von 15 der anwesenden 27 Mitglieder bestätigt. Der Senat der Universität hat am 20. Juli die Einsetzung einer Kommission zugesagt, um die Namensangelegenheit prüfen zu lassen. Ein Teil der im Senat vertretenen Professorenschaft hat die Initiative gegen die Namensgebung bereits positiv bewertet.

Gezielte Suchen in den zahlreichen Reden und politischen Büchern des im Kampf gegen die napoleonische Besetzung des deutschsprachigen Raumes und weiter Teile Europas sowie gegen die deutsche Kleinstaaterei hochengagierten Schriftstellers hatten allerlei zutage gefördert, was in den Augen und Ohren der Zeit-Genossen und anderer die Alarmglocken schrillen ließ. Positive Rollen als Demokrat oder Patriot hin oder her – Arndt tauge als nachgewiesener Franzosenhasser, Vertreter eines völkischen Nationalismus und wegen antisemitischer Positionen nicht zum Namensgeber einer sich weltoffen verstehenden Universität der Gegenwart. Sein Name schade der Universität angeblich in Frankreich und Polen und belaste ihr Ansehen auch ansonsten.

Man wolle Arndt nicht vom Sockel stoßen, heißt es in der aktuellen Debatte von Befürwortern der Initiative „Uni ohne Arndt“ scheinbar beschwichtigend. Es gehe nicht um Denkmale, Straßen- oder Platzbenennungen. Arndt gebührten durchaus Verdienste um die Beseitigung der Leibeigenschaft im damaligen Schwedisch-Vorpommern, zu dem auch Rügen, Stralsund und Greifswald einst gehörten – ein Umstand, der neben der Vorbildfunktion für die Freundschaft mit den Russen für die DDR offenbar maßgebend gewesen war, die Universität den nach 1945 zunächst ruhenden Namen ab 1954 wieder führen zu lassen. Nur eben als Namensgeber einer sich weltoffen verstehenden Universität eigne er sich nicht.

Ganz so harmlos dürfte es wohl nicht abgehen. Die Online-Seiten von Zeit und Spiegel verweisen ebenso wie die der Amadeu-Antonio-Stiftung und anderer im Netzwerk gegen Rechts bereits fleißig auf die Schulen und Kasernen in Städten, in denen sich die Debatte wiederholen ließe, wenn erst einmal der Anfang gemacht wäre. Nirgends fehlen die Hinweise auf die Stichworte Antisemitismus, völkischer Nationalismus oder Rechtsextremismus. Und natürlich auch nicht auf den Umstand, daß es Hermann Göring war, der auf Antrag organisierter Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs der Universität 1933 erstmals den Namen verliehen hatte. So haben sich die üblichen Verdächtigen in Medien und Hochschule auf die bereitgestellten Pferde gesetzt und reiten mit dem heutigen Zeitgeist gegen den alten.

Das Phänomen geistig-totalitärer Intoleranz ist keine Besonderheit der Gegenwart. Es hat in den unterschiedlichsten Ausformungen die Menschheitsentwicklung begleitet. Das Abbrennen großer Bibliotheken ersetzte im Altertum und frühen Mittelalter die Zensur.

Dabei geht es nicht darum, daß sich etliches Antisemitisches selbst bei Heinrich Heine finden ließe (ohne daß dies der nach ihm benannten Universität in Düsseldorf bislang Probleme bereitet hätte). Es geht auch nicht allein um Arndt. Vor allem geht es um Symbolhaftes im Zuge eines allgemeinen Kampfes gegen Rechts. Eine neue Opfergabe soll erlangt werden als Beleg dafür, daß der Nasenring noch sitzt, mit dem man seinem Herrschaftsanspruch Geltung verschaffen und nicht gewollte Identitäten erschüttern und beseitigen kann.

Aus ähnlichen Debatten der Vergangenheit weiß man, wie sie ausgehen dürften. Diesem derzeit gefahrlosen Spiel ohne Grenzen wohnt der Vorteil inne, daß sich Links gegen Rechts nicht rechtfertigen muß, weil man sich von vornherein auf der guten und moralisch richtigen Seite wähnt. Alles, was sich nicht als Links im fließenden aktuellen Verständnis verstehen darf, muß zudem damit rechnen, bereits bei nächstpassender Gelegenheit selbst als Rechts gebrandmarkt zu werden, gegebenenfalls mit der wohlmeinenden Vorwarnung als „umstritten“ oder „rechtskonservativ“ (was kurz vor der Ausgrenzung steht). Ist da nicht Vorsicht angesagt?

Dementsprechend stoßen linke Angreifer fast nur auf Gegner, die sich ebenso opportunistisch verhalten wie die guten Bürger in einem John-Wayne-Western, deren Stadt von Desperados terrorisiert wird. Zumal: Ernst zu nehmende Helden sind nicht zu erwarten. Da können selbst 26jährige Studenten furchtlos als freiberufliche Gesellschaftskritiker walten. Im universitären Namensstreit heißt es von professoraler Seite schlau, es gehe doch auch ohne Namen, wie bei berühmten anderen Universitäten feststellbar sei. Wohl wahr, aber geht es darum?

Auch die defensiven Hinweise in der Arndt-Debatte auf den herzustellenden „historischen Kontext“, in dem inkriminierte Zitate gefallen seien, auf politische, militärische oder sonstige Begebenheiten sind zweifellos berechtigt. Sie müssen die Angreifer aber nicht wirklich beeindrucken, können sie sich doch auf die durchgesetzte Richtigkeit ihrer Gesinnung stützen und auf den medialen Begleitschutz mit seinem sozialen und politischen Ächtungs- und gegebenenfalls Vernichtungspotential. Und darum muß jedem klar sein: Um eine ergebnisoffene Debatte geht es der Linken heute nur, soweit sie ihr nutzt. Der von Herbert Marcuse im Zuge der 68er-Debatten wieder neu entdeckte Gedanke der repressiven Toleranz zur Legitimation eigener Intoleranz in Debatten und Straßenkämpfen prägt die heutige Botschaft für Demokratie und Toleranz und verkehrt sie in der praktizierten Wirklichkeit ins gewollte Gegenteil.

Das Spiel funktioniert aber nur so lange, wie es undurchschaut zugelassen wird. Vorgehaltene Spiegel können entlarven und den überheblichen schönen Schein nachhaltig in Frage stellen. Das Phänomen geistig-totalitärer Intoleranz ist keine Besonderheit der Gegenwart. Es hat in den unterschiedlichsten Ausformungen die überschaubare Menschheitsentwicklung begleitet. Das Abbrennen großer Bibliotheken ersetzte im Altertum und frühen Mittelalter die Zensur. Man vernichtete fremde und gleichzeitig die eigene Kultur störende Kultur- und Wissensschätze und sicherte so Unterwerfungen ab. In Varianten nahm man Schriftrollen und Bücher einfach in eigene Bibliotheken auf und unter Verschluß. Umberto Eco hat dieser Praxis mit seinem Welterfolgsbestseller „Im Namen der Rose“ eine spannende Romanunterlegung gegeben. Mit der Entwicklung der Buchdruckerkunst wuchs bis heute das Bemühen um Zensur. Wer aktuell den Buchhandel zwingen will, politisch unerwünschte Bücher im Zuge freiwilliger Selbstzensur nicht zu vertreiben, muß wissen, daß er mit vielen seiner Vorgänger im Ergebnis scheitern wird. Die Welt ist für solche Engstirnigkeiten zu groß geworden.

Besonders ausgeprägt waren Intole­ranzphänomene im Falle religiöser oder weltanschaulicher Überhöhungen. Die sogenannten Bilderstürmereien als Begleiterscheinung reformatorischer Entwicklungen im europäischen 16. Jahrhundert lieferten dafür nur ein Beispiel. Als Beleg für angeblich abergläubische Götzendienste und die Ablenkung von wahrer Frömmigkeit wurden im Namen eines reinen Glaubens mit Inbrunst Gemälde, Skulpturen, Kirchenschmuck und bebilderte Fenster aus den Kirchen entfernt und zu großen Teilen zerstört. Es gab symbolische Schauprozesse, Aktionen von Vandalismus und Gewaltaktionen fanatisierter Menschenmengen, teilweise auch Abrechnungen zwischen dem einfachen Volk und der Oberschicht. Es wurde nicht lange gefackelt, schließlich wähnte man sich auf der richtigen Seite. Die heutigen ersatzreligiösen Denkmalsstürmer und Namenstilger befinden sich also in bester Gesellschaft – allerdings im selbst so empfundenen finsteren Mittelalter und nicht in einer weltoffenen Moderne.

Ein besonders düsteres Kapitel stellte die Verfolgung der sogenannten „weisen Frauen“ in Gestalt der Heilkundigen, Hebammen und Baderinnen dar. Sie mutierten im Zuge der Christianisierung zu Hexen und fristeten als Wissensträger vorchristlicher Kultur und Religiosität zunächst ein in Nischen und ins Verborgene abgedrängtes Leben. Mit der Hexenbulle von Papst Innozenz VIII. im Jahr 1484 und dem drei Jahre später erschienenen „Hexenhammer“ der Dominikanermönche Heinrich Institoris und Jakob Sprenger begannen dann in Europa die Scheiterhaufen zu brennen – über vier Jahrhunderte lang.

Der damalige Kampf gegen das vermeintlich Böse nahm richtig Fahrt auf, nachdem Ketzerverfolgungen und Hexenwahn miteinander verbunden worden waren. Betroffene Frauen hatten keine Chance, ihrem Schuldspruch zu entgehen, wie sich den Beschreibungen des Jesuitenpaters Friedrich von Spee in seiner „Cautio Criminalis“ von 1631 entnehmen läßt. Die Indiziensuche nach Hexerei trug durchaus vergleichbare Züge zu heutigen Erscheinungsformen im Kampf gegen Rechts vor allem „in der Mitte der Gesellschaft“, wo sich bekanntlich die „netten Nazis von nebenan“ listenreich zu tarnen wissen.

Das Bewerten einzelner Aussagen mit heutigen Maßstäben kann nur im Kannibalismus enden. Es bleibt verkrampft und einer gefestigten freiheitlichen Gesellschaft unwürdig. Von unseren existentiellen Zukunftsproblemen lenkt es zudem in abstoßender Weise nur ab.

„Denn das, sagt man, sei überhaupt eine besondere Eigentümlichkeit der Hexen, daß sie sich ganz unschuldig stellen und den Kopf nicht sinken lassen“ (von Spee). Nun, man kam ihnen doch auf die Schliche, und die Folter erbrachte in jedem Fall die gewünschten Aussagen (auf Geschriebenes konnte im Regelfall ja leider noch nicht zurückgegriffen werden). Indizien für Hexerei ergaben sich fast beliebig auf der Basis von Angst, Mißgunst und Vorteilssuche in eigenen Angelegenheiten.

Immerhin: Das erste Land, das die Folter gesetzlich abschaffte, war 1740 Preußen. Den heutigen Zitate-Suchern und Prüfern, wem mit welchen verdächtigen Personen auch nur mittelbar ein Kontakt nachgewiesen werden kann, um mit diesem Indiz einen erneuten Anfangsverdacht für falsche Gesinnung belegen zu können, ins Stammbuch geschrieben: Lest von Spee, auf daß Euer Wahn von heute schneller als einst geheilt werden möge.

Wie Revolutionen ihre Kinder fressen, machte die jakobinische Schreckensherrschaft im Zuge der Französischen Revolution deutlich, diesmal im Namen von Gleichheit und Freiheit. Die Brüderlichkeit endete nämlich nur zu häufig am Absolutheitsanspruch eigener Dogmatik. Auch hier führten beliebige Verdächtigungen ohne viel Federlesens oftmals unmittelbar zum Schafott. Die Schrecknisse und Widerlichkeiten des 20. Jahrhunderts im Zuge der großen Kriege und auch jenseits davon im Namen ideologischer Fortschrittsvisionen sind noch weithin in allgemeiner Erinnerung, wenngleich vorherrschend mit deutlich selektiver Wahrnehmung.

Angesichts der kannibalischen Züge historischer Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und aktuell in Greifswald sei nur ein einzelner Aspekt herausgegriffen. Es gehört zu den unrühmlichen Seiten des studentischen Universitätslebens in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts, daß so viele Bücher und Schriften deutscher und anderer Autoren auf ihre vermeintlich falsche Gesinnung hin nach anstößigen Zitaten durchsucht und dann im Bewußtsein der eigenen richtigen Weltsicht unter höhnischen Reden den Flammen aufgeschichteter Feuer übergeben wurden. Daß nach dem Zweiten Weltkrieg in Mecklenburg-Vorpommern unter kommunistischen Vorzeichen erneut und in noch größerem Umfang Bücher brannten (JF 14/02), scheint schon wieder in Vergessenheit geraten zu sein.

Es ist ein Skandal für sich, daß es im heutigen linken, sich so weltoffen gerierenden Greifswalder Universitätsbereich offenbar wieder Studenten und Professoren gibt, die sich auf den Pfad der Gesinnungshatz begeben – und auf die der Satz von Michael Klonovsky zutrifft, man sehe auch am demokratischen Verhalten, wer zum Nazi getaugt hätte.

Das Verdienst historischer Personen ergibt sich aus ihren objektiven Beiträgen zu den Geschehnissen ihrer Zeit. Das Bewerten einzelner Aussagen mit heutigen Maßstäben kann nur im Kannibalismus enden. Es bleibt in historisch belegter Weise verkrampft und einer gefestigten freiheitlichen Gesellschaft unwürdig. Von unseren tatsächlichen existentiellen Zukunftsproblemen lenkt es zudem in abstoßender Weise nur ab.

 

Erik Wollin, Jahrgang 1955, studierte Politik- und Rechtswissenschaft und lebt als Jurist derzeit in Niedersachsen.

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