© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/09 11. September 2009

Rückkehr zu faschistischen Praktiken
Eine erschütternde Dokumentation italienischen Unrechts in Südtirol in den 1960er Jahren
Martin Schmidt

Wer sich von den über 700 dicht beschriebenen Seiten und den bedrückenden Inhalten nicht abschrecken läßt, wird dieses Buch so schnell nicht wieder aus dem Kopf bekommen. Helmut Golowitschs Dokumentation „Für die Heimat kein Opfer zu schwer. Folter – Tod – Erniedrigung: Südtirol 1961–1969“ beinhaltet zahlreiche detailgetreu wiedergegebene Zeugnisse eingesperrter Aktivisten des „Befreiungsausschusses Südtirol“ (BAS), anderer Verfechter des Wiedervereinigungsgedankens mit Österreich und gänzlich unbeteiligter Tiroler über brutale Foltermethoden in den Carabinieri-Gefängnissen von Meran, Eppan, Neumarkt und anderen. Er verknüpft diese aus politischen Rücksichten teils jahrzehntelang in Archiven versteckten Quellen mit ausführlichen Darstellungen der geschichtlichen Hintergründe.

Nach der sogenannten „Feuernacht“ vom 11. auf den 12. Juni 1961 waren in der im Gefolge des Ersten Weltkriegs Italien zugeschlagenen Region mit Billigung aus Rom berüchtigte Praktiken der italienischen Faschisten reaktiviert worden, um den offenen Widerstand im Keim zu ersticken. Doch die aus den Gefängnissen geschmuggelten Folterberichte entfalteten letztlich ebenso ihre Wirkung wie die Sprengung von annähernd vierzig Strommasten in der „Feuernacht“ oder vorangegangene Anschläge auf im Bau befindliche Zuwanderer-Wohnblocks und hochsymbolische Orte der italienischen Herrschaft (etwa ein monströses Mussolini-Denkmal in Waidbruck oder die Villa des faschistischen Senators Ettore Tolomei, des „Urvaters“ aller Italienisierungsmaßnahmen in Südtirol). Eine wesentliche Rolle spielte die Berichterstattung großer österreichischer wie bundesdeutscher Zeitungen und Zeitschriften. Der positive Tenor dieser Artikel versetzt den heutigen Leser in Erstaunen und bestärkt die Erkenntnis, daß der Zeitgeist in beiden Ländern vor 1968 ein ganz anderer war als danach.

Selbst der ursprünglich als Mann des „Wiedervereinigungsflügels“ an die Spitze der Südtiroler Volkspartei (SVP) gelangte Silvius Magnago, dessen übervorsichtige Haltung dann Anlaß zu scharfer Kritik gab (so verweigerte er nicht nur eine gezielte Veröffentlichung von Folterbriefen, sondern auch jegliche Unterstützung von Angehörigen der zu „Terroristen“ herabgewürdigten Inhaftierten), mußte später auf der Landesversammlung seiner Partei im Jahr 1976 in Meran eingestehen, daß die gewaltsamen Widerstandsformen des BAS wesentlich zum 1969 vereinbarten Autonomie-„Paket“ beigetragen haben.

Daß es in der Südtirol-Frage italienischerseits überhaupt zu einem Wechselspiel von Zuckerbrot und Peitsche kommen würde, war noch bis Anfang der sechziger Jahre nicht absehbar. Das „demokratische“ Nachkriegsitalien setzte die Zwangsitalienisierung der faschistischen Zeit nahezu bruchlos – und nicht selten mit dem gleichen, nur oberflächlich gewendeten Personal – fort. Ja, es trieb die Zurückdrängung der deutschen Kultur durch Industrieansiedlungen und einen großflächigen sozialen Wohnungsbau für Zuwanderer aus Süditalien in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre derart auf die Spitze, daß sich unter den Einheimischen Angst, Verzweiflung, aber auch Wut und Widerstandswille verbreiteten. Am stärksten war die Empörung wohl im vergleichsweise dicht besiedelten Raum zwischen Meran und Bozen sowie dem sich südlich anschließenden, an der Etsch bis zur Salurner Klause hinziehenden Unterland, das in den ersten Nachkriegsjahren noch für eine Einverleibung in die Provinz Trient (Trentino) vorgesehen war.

Bereits am 17. November 1957 war es auf einer Kundgebung in Sigmundskron zu einem unübersehbaren Massenprotest von rund 35.000 Tirolern gekommen, nachdem der italienische Arbeitsminister Togni am 1. Oktober ein Telegramm an den italienischen Bürgermeister von Bozen geschickt hatte, in dem er ihm die Bewilligung der Gelder für den Bau von 5.000 weiteren Wohneinheiten allein in dieser Stadt mitteilte (bis dato waren in ganz Südtirol seit Kriegsende 4.100 Sozialwohnungen errichtet wurden, von denen nur 216 an deutsche und ladinische Bewohner gingen).

In diese Zeit reicht auch die Entstehung des BAS zurück, dessen Führungsfigur der Frangarter Kaufmann Sepp Kerschbaumer war. Anfangs beschränkte sich die Tätigkeit des Befreiungsschusses auf Flugblattaktionen. Ein von Kerschbaumer verfaßtes und in Sigmundskron verbreitetes Propagandablatt brachte den Ernst der Lage auf den Punkt: „Landsleute! Noch nie in den fast vierzig Jahren italienischer Herrschaft hat sich unser Volk in einer so gefährlichen Lage befunden wie heute. Was dem Faschismus in nahezu zwanzig Jahren mit gewaltsamen Unterdrückungsmaßnahmen nicht gelungen ist, hat das demokratische Italien in nahezu zehn Jahren beinahe erreicht. Trotz des Pariser Vertrages! Noch zehn Jahre ‘christlich-demokratische’ Herrschaft in Südtirol und sie haben es erreicht, was sie sich von Anfang an zum Ziele gesetzt haben: Die Südtiroler im eigenen Lande in die Minderheit zu drängen. (...) Landsleute! Es ist fünf vor zwölf.“ Tatsächlich lag der italienische Bevölkerungsanteil 1961 bereits bei 34,3 Prozent gegenüber 2,9 Prozent im Jahr 1910 und etwa 22,6 Prozent Ende 1944.

Kerschbaumer verstarb am 7. Dezember 1964 mit nur 51 Jahren im Gefängnis von Verona. Ein weiterer Inhaftierter kam ebenfalls in seiner Zelle um, und viele der damals weit über hundert eingekerkerten Südtiroler trugen bis an ihr Lebensende gesundheitliche Schäden davon. Den meisten der „Bumser“ blieb es immerhin vergönnt mit anzusehen, wie spätestens seit Inkraftsetzung des Autonomiepakets 1972 die Politik der kulturellen Entfremdung ihren Höhepunkt überschritten hatte und der italienische Zuwandereranteil kontinuierlich zu sinken begann. Von bekannten BAS-Vorkämpfern wie Sepp Kerschbaumer, Jörg Klotz, Luis Amplatz oder Franz Höfler zeugen bis heute Straßennamen in Innsbruck, Bezeichnungen von Schützenkompanien, zwei längst vergriffene Tatsachenberichte über „die Schändung der Menschenwürde in Südtirol“ von 1964 bzw. in zweiter Auflage 1977, zahllose im Volk kolportierte Legenden – und seit kurzem nun auch diese erschütternde Dokumentation von Helmut Golowitsch.

Helmut Golowitsch: Für die Heimat kein Opfer zu schwer. Folter – Tod – Erniedrigung: Südtirol 1961–1969, Edition Südtiroler Zeitgeschichte Zirl in Tirol 2009, gebunden, 718 Seiten, Abbildungen, 28,50 Euro

Fotos: Italienische Soldaten bewachen ein Kraftwerk, Südtirol nach dem 12. Juni 1961: Symbolische Orte, Forderung nach Selbstbestimmung für Südtirol, Sigmundskron am 17. November 1957: Gegen die Zwangsitalienisierung, Luis Amplatz entrollt die verbotene Tiroler Fahne aus dem Schloßturm in Sigmundskron: „Landsleute! Es ist fünf vor zwölf.“

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