© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/09 18. September 2009

Erfolg mit den Mitteln der Diplomatie
Willkommen in Afghanistan: Während des Ersten Weltkriegs gaben Deutsche die Initialzündung für die Eigenstaatlichkeit am Hindukusch
Walter Rix

Im März 1915 erhielt der Leutnant Werner von Hentig an der Ostfront den Befehl, sich auf schnellstem Wege nach Berlin zu begeben und sich dort bei der Abteilung 3 b des Generalstabs, der Militärpolitischen Abteilung zu melden. Bei seiner Einheit hatte er sich binnen kurzem, wie er in seinen Lebenserinnerungen „Mein Leben – eine Dienstreise“ schreibt, als „Spezialist für strategische Patrouillen, größtenteils hinter der feindlichen Front“ ausgezeichnet, ein Umstand, der ihn für das bevorstehende Abenteuer empfehlen sollte.

Werner Otto von Hentig, Sohn des in der Bismarck-Ära bekannten Juristen und leitenden Staatsministers von Sachsen-Coburg-Gotha, war eigentlich Diplomat, der als frisch promovierter Mann noch auf der untersten Stufe der diplomatischen Karriere stand. Aber selbst in dieser untergeordneten Position verkörperte er bereits vor 1914 den Zeitenbruch und die andere Welthaltung der neuen Generation, die den diplomatischen Dienst nicht mehr als vornehmes Feld adeligen Wirkens betrachtete. Bereits während seiner Probeanstellung auf dem Attachéposten der deutschen Gesandtschaft in Peking hatte er in den Wirren des einsetzenden Bürgerkrieges durch sein beherztes Eingreifen zahlreiche Leben gerettet. Auch auf den folgenden Posten in Konstantinopel und Teheran zeichnete er sich durch seine Fähigkeiten aus. Nicht ohne Grund hatte der spanische Botschafter in Paris León y Castillo Marquis del Muni als Wortführer aller in Paris akkreditierten Diplomaten bereits am 3. Januar 1910 im Élysée-Palast von einer „neuen Ära der Diplomatie“ gesprochen.

Hentigs Unternehmen als diplomatische Aktion starten

Man hatte Hentig daher 1915 für einen ganz speziellen Sonderauftrag vorgesehen. Da alle verfügbaren Orientexperten, einschließlich des später berühmten Indologen Helmuth von Glasenapp, bereits im Einsatz waren, sollte er in politischer Mission nach Afghanistan gehen. Die Quellenlage macht es nicht leicht, die genaue Zielsetzung und den türkischen Anteil dieser Aktion zu ergründen. Hentig selbst schreibt dazu: „Nach dem Erstarren der Westfront war man auf den Gedanken zurückgekommen, diesmal politisch Englands Herz in Indien zu treffen. Anstoß dazu hatte der Besuch des Kumar von Hatras und Mursan Mahendra Pratap im Auswärtigen Amt und anschließend im Kaiserlichen Hauptquartier gegeben.“ Unterstützt wurde dieser Gedanke noch durch den islamischen Rechtsgelehrten Molwi Barakatullah.

Von Kabul aus wollte man die bis heute instabile Region zwischen Afghanistan und dem damaligen Indien gegen England aufwiegeln und von dort aus die Idee der nationalen Unabhängigkeit in den indischen Subkontinent hineintragen. Die beiden indischen Mitstreiter dieser Absicht waren recht ungewöhnliche Persönlichkeiten, die in den verschiedenen Berichten recht unterschiedlich gewertet werden. Mursan Mahendra Pratap jedenfalls war ein gebildeter Patriot, der als Adeliger sein Vermögen der Armenpflege geopfert hatte und ein unabhängiges Indien jenseits des Kastengeistes anstrebte. Barakatullah war von New York über Tokio und die Schweiz nach Berlin gereist, um von hier aus den Kampf gegen die imperiale Herrschaft Englands zu unterstützen.

Hentigs Bedingung für die Annahme des Auftrags war, daß das Unternehmen ausschließlich als diplomatische und auf keinen Fall als militärische Aktion durchgeführt werden sollte. Um möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen, mußte die Gruppe daher sehr klein gehalten werden. Neben den beiden indischen Mitstreitern wählte Hentig noch zwei Hodschas, islamische Geistliche, und aus den über 100.000 islamischen Kriegsgefangenen, oftmals Überläufer, fünf kampfesfreudige Afridis aus dem Grenzgebiet zwischen Afghanistan und dem heutigen Pakistan aus. Diese boten sich freiwillig an und stellten als einzige Bedingung, sie mit einem deutschen Präzisionsgewehr auszurüsten. Schließlich kamen noch der Stabsarzt Karl Becker, den Hentig bereits von Teheran her kannte, und der persienerfahrene Kaufmann Walter Röhr hinzu. Als Verbindungsmann zum türkischen Militär fungierte der im Range eines Hauptmannes stehende Kasim Bey. Insgesamt zog die Gruppe mit 14 Mann und 40 Tragetieren los. In Bagdad stieß sie auf eine weitere deutsche Gruppe, die von dem bayerischen Artillerieoffizier Oskar Niedermayer geführt wurde und mit eher militärischer Zielsetzung ebenfalls nach Kabul strebte (JF 15/03).

Zwar galt der Iran als neutral, aber der nördliche Teil wurde von Rußland kontrolliert, während der südliche Teil durch England beherrscht wurde. Hentig mußte sich also nach Möglichkeit zwischen beiden Bereichen hindurchbewegen. Das führte ihn durch die persischen Salzwüsten, die allgemein als unpassierbar galten. Die Leiden der kleinen Karawane überstiegen bei weitem alle Prognosen. Er durchquerte Bereiche, die zehn Jahre vorher Sven Hedin als erster Europäer besucht hatte, und die noch Jahrzehnte danach von keinem Europäer betreten wurden. Obgleich Engländer und Russen alles daransetzten, den Erfolg der deutschen Aktion zu verhindern, konnte die kleine Gruppe die afghanische Grenze am 21. August 1915 überschreiten. Jetzt versuchten die afghanischen Behörden, ein Zusammentreffen Hentigs mit der Bevölkerung des nördlichen Berglandes zu verhindern. Hentig stellte das Fehlen wesentlicher staatlicher Strukturen fest und vermerkte mit Erstaunen, daß die nördlichen Stämme, die nichts mit Kabul im Sinne hatten, in ihm fast so etwas wie den Vertreter ihrer Anliegen sahen. Insgesamt wies das Land damals mindestens 32 unterschiedliche Ethnien und vier große Sprachgruppen auf.

Afghanistan war Vasallentum der britischen Krone

Der diplomatische Spielraum für Hentig war allerdings gering. Zwar war es den Engländern trotz erheblicher Verluste 1839 und 1879 nicht gelungen, Afghanistan zu unterwerfen, aber sie hatten durch das Prinzip der indirect rule sowie durch Subsidien den König zum Vasallen der britischen Krone gemacht: Emir Habibullah bezog jährlich beträchtliche Zuwendungen aus England. Gleichzeitig wachte der britische Vizekönig und Generalgouverneur von Indien, Lord Hardinge of Penshurst, darüber, daß der König die vorgegebene englandfreundliche Linie nicht verließ. Und schließlich war der britische Geheimdienst, von Rudyard Kipling in seinem Roman Kim so anschaulich beschrieben, allgegenwärtig. Der König dachte daher gar nicht daran, sich auf eine Schaukelpolitik einzulassen, zumal Italien vom Dreibund abgefallen war, Rußland im Kaukasus eine Offensive gestartet hatte und militärische Erfolge des Osmanischen Reiches ausblieben.

Hentig wandte daher das britische Herrschaftsprinzip an, den politischen Einfluß durch die Köpfe der maßgeblichen Klasse auszuüben. Ganz ohne Einfluß war Deutschland überdies nicht. Unter dem Artilleriepark Kabuls entdeckte Hentig zahlreiche Gebirgsbatterien der Firma Krupp samt einem Kruppschen Werkmeister namens Gottlieb Fleischer. Dieser wurde übrigens bei Verlassen des Landes, wie Spekulationen meinen, von englischen Agenten ermordet.

Mit geschickter Systematik verschaffte sich Hentig in der Rolle des wohlwollenden Beraters Gehör bei den Entscheidungsträgern. Ihm kam dabei zugute, daß eine Gruppe um den als eine Art Kanzler amtierenden Nasrullah Khan, einem Bruder des Emirs, gegenüber der Idee der nationalen Unabhängigkeit aufgeschlossen war. Auf diese Gruppe und auch auf den jungen Prinzen Habibullah vermochte Hentig bereits nach kurzer Zeit erheblichen Einfluß auszuüben. Schließlich fand er sogar das Ohr des Emirs. Dieser hatte bis dahin aus seiner feudalistischen Perspektive das Land als sein Privateigentum betrachtet. Hentig versuchte nun, ihm die Prinzipien eines modernen Staatswesens zu vermitteln. Ohne daß es deutlich wurde, legte er damit die Grundlage für das Streben nach Unabhängigkeit. Insbesondere das Prinzip eines geordneten Staatshaushaltes leuchtete dem Emir ein, weil dieser mehr an Steuern einzunehmen versprach, als die englischen Subsidien einbringen würden.

Afghanische Unabhängigkeit auf den Weg gebracht

Insbesondere die Empfehlung, seine Konten dem Einflußbereich der Engländer zu entziehen, leuchtete dem König ein. „Vom Emir nicht mehr gehindert, sondern sogar begünstigt, wuchs unser Einfluß bald auf allen Gebieten des afghanischen gesellschaftlichen, staatlichen und wirtschaftlichen Lebens“, faßt Hentig im Rückblick zusammen. Vom Steuerwesen über ein Nachrichtenbüro bis hin zur militärischen Ausbildung konnte Hentig geradezu einen Reformschub bewirken. Viele seiner Erkenntnisse sind auch heute noch von Bedeutung. So urteilt er über den militärischen Bereich: „Auch eine Heeresreform hielten wir für unerläßlich. In einem Lande wie Afghanistan (…) kam es nicht auf europäische Verbandsgliederungen wie Divisionen und Armeekorps an, sondern darauf, möglichst im unwegsamen Gebirge verwendbare aus den verschiedenen Waffen zusammengesetzte kleinere selbständige Einheiten zu schaffen. Auch mußte Afghanistan auf Vorkehrungen gegen vielfach im Grenzgebiet schon erfolgte Luftbombardements bedacht sein.“

Der zunehmende Druck Englands veranlaßte Hentig, sich am 21. Mai 1916 zurückzuziehen. Da ihm der Marsch durch Persien zu gefährlich erschien, wählte er die Route über den Hindukusch, den Pamir, durch die Mongolei und China. Wiederum war er Strapazen ausgesetzt, die ihn dem Erschöpfungstod nahebrachten. Auf den ersten Telegrafenstationen erhielt er unsinnige Anweisungen der Gesandtschaft in Peking, die zudem noch nicht einmal verschlüsselt waren. Hentig widersetzte sich und geriet damit in einen folgenreichen Gegensatz zum Auswärtigen Amt.

Im Februar 1919 wurde Emir Habibullah in seiner Winterresidenz in Dschalalabad nachts im Schlaf ermordet. Drahtzieher war wahrscheinlich sein Bruder Nasrullah Khan. Jetzt riß der mit Hentig eng vertraute Prinz Amanullah die Regierungsgeschäfte an sich. Im Mai 1919 kam es zum dritten Afghanistankrieg, der im November 1920 durch den Friedensschluß von Rawalpindi die Unabhängigkeit des Landes bringt. Gleich 1921 wird der deutsch-afghanische Freundschafts- und Handelsvertrag abgeschlossen.

Im Februar 1928 kommt Amanullah, nunmehr König, auf Staatsbesuch nach Berlin. Das immer noch von Ressentiments geplagte Auswärtige Amt versucht mit allen Mitteln, ein Treffen zwischen dem afghanischen König und Hentig mit unlauteren Mitteln zu verhindern. Nur die AEG bittet ihn, das Programm für eine Besichtigung des Berliner Werkes auszuarbeiten. Bei seinem Rundgang entdeckt der König seinen früheren Gast und Berater, stürmt auf ihn zu, umarmt ihn in aller Öffentlichkeit und besteht darauf, daß dieser im Protokoll einen prominenten Platz erhält. Reichspräsident Paul von Hindenburg fordert das Auswärtige Amt nachdrücklich auf, dieses befremdliche Verhalten gegenüber Hentig zu erklären.

1969 wird der mittlerweile 83jährige Hentig von dem seinerzeit amtierenden König Sahir Schah als Ehrengast zu den Unabhängigkeitsfeierlichkeiten eingeladen. Hentig nutzt die Gelegenheit, um die in Pakistan verbliebenen Geheimdienstakten der ehemaligen britischen Kolonialverwaltung durchzusehen. Er tut dies nicht ohne eine gewisse Genugtuung, denn der amerikanische Geheimdienst hatte seine eigenen Akten nach 1945 in die USA verbracht und hat sie bis heute nicht zurückgegeben. In den Geheimakten der ehemaligen Kolonialmacht findet er mehrfach die Auswertung seiner Mission: Die deutsche Aktion hat die afghanische Unabhängigkeit auf den Weg gebracht und dem indischen Unabhängigkeitsstreben wesentliche Impulse vermittelt.

Fotos: Afghanistan-Expedition 1915, Werner von Hentig (weiße Uniform), Oskar Niedermayer rechts daneben: Erheblicher Einfluß, Kabul 1915: Einfluß auf maßgebende Köpfe

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