© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/09 18. September 2009

Adam Smith und der gezügelte Kapitalismus
Auf die Institutionen kommt es an
von Jost Bauch

Im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise wird der Kapitalismus und der Neoliberalismus erneut einer heftigen Kritik unterzogen. Nach dem Schock des Zusammenbruchs des Sowjetkommunismus schwenkt der Mainstream der veröffentlichten Meinung wieder nach links – nach einer Umfrage von Infratest Dimap möchten in den neuen Bundesländern 39 Prozent der Bürger dem Sozialismus eine zweite Chance geben. Man kann gar nicht so schnell gucken, wie aus Deregulierungsfanatikern und Globalisierungsfetischisten Befürworter des sozialistischen Staatsdirigismus werden.

Als Ziehvater des modernen, ungebremsten Turbokapitalismus gilt Adam Smith (1723–1790). Er gilt als Nestor der liberal orientierten Nationalökonomie, er lieferte die theoretischen Grundlagen und Begründungen für den Manchester-Kapitalismus, nach dem der Markt alles regelt und der Staat allenthalben eine „Nachtwächterfunktion“ bekommt. Dabei wird Adam Smith auf ein liberales Grund-Credo reduziert, wonach durch ein „Wimmeln von Willkür“ bei den einzelnen Wirtschaftssubjekten durch eine „unsichtbare Hand“ („invisible hand“) die beste aller Gesellschaftsordnungen gleichsam hinter dem Rücken der Akteure entstehen wird.

Gegenüber einem solchen reduzierten Bild von Adam Smith ist daran zu erinnern, daß er in erster Linie Moralphilosoph war und sich in seinem Wirken keineswegs als Apologet eines „wildgewordenen Turbokapitalismus“ erwiesen hat. Der moderne Kapitalismus anglo-amerikanischer Prägung, dessen krisenhafte Auswirkungen wir heute zu spüren bekommen, kann sich keinesfalls auf Adam Smith berufen. Adam Smith, wie mit ihm Adam Ferguson (1723–1816), waren Exponenten der „schottischen Moralphilosophie“, Smiths Hauptwerk war die „Theorie der ethischen Gefühle“, und seine bahnbrechende Arbeit „The Wealth of Nations“ lediglich eine ökonomische Verlängerung seiner ethisch-moralischen Studien. Wie Walther Eckstein, Herausgeber der „Ethischen Gefühle“ in Deutschland anmerkte, war Smith ein Autor, der mehr zitiert als gelesen wurde. So kommt es, daß Smith völlig zu Unrecht als extremer Materialist und Individualist verschrien ist (so bei Friedrich List und Gustav von Schmoller in Deutschland). Dabei zeigt sich, daß das „Manchestertum“ mit seinen Parolen des „Laissez faire, laissez aller“ auf Nachfolger von Smith zurückgeht, im engeren Sinne auf die Theorien von Jean-Baptiste Say und David Ricardo.

Smith war ein philosophischer Revolutionär, weil er mit dem in der damaligen Zeit vorherrschenden naturrechtlich-rationalistischen Menschen- und Gesellschaftsbild brach. An die Stelle der Gattungsbestimmungen, auf deren Grundlage rationalistisch die eine richtige, weil für alle Menschen geltende Ordnung errichtet werden sollte, setzten er und die schottische Moralphilosophie das „principium individuationis“. Das Erkenntnisinteresse verlagerte sich auf den einzelnen und auf die Zusammenfassung vieler einzelner im realen, empirisch erfahrbaren Status quo.

Die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens war so keine Frage der Deduktion aus gattungsspezifischen Abstrakta, die die richtige Ordnung apriorisch nahelegten; diese Frage war nun nur über die empirische Konstatierung des gesellschaftlichen Ist-Zustandes möglich. Die Frage hieß nicht, wie der Mensch Ordnung schaffen kann, die seine naturrechtliche Konstitution vernichtet (Thomas Hobbes) oder verwirklicht (Christian von Wolff); die neue Frage lautete, wie es möglich ist, daß trotz der individuellen Vielfalt menschlicher Neigungen und Interessen sich gesellschaftliche, historisch variierende Ordnung einstellt.

Der Turbokapitalismus ist dadurch gekennzeichnet, daß der Marktmechanismus über das Gebiet der Wirtschaft entgrenzt und in weite gesellschaftliche Bereiche überdehnt wurde und nicht mehr durch nicht-marktförmige Kulturbestände eingehegt wird.

Die gesellschaftliche Ordnung resultiert nach Smith aus dem Zusammenwirken der „natürlichen Neigungen“ der Menschen. Gesellschaftliche Ordnung ist im wesentlichen ein Resultatszusammenhang ex post aus einer Vielzahl intentionaler Handlungen. Daß aus dem „Wimmeln von Willkür“ auf der Handlungsebene kein Chaos wird, dafür sorgen die ethischen Gefühle. Denn jeder Mensch verfügt nach Smith über ein „natürliches Gefühl des sittlich Richtigen“. Jedes Subjekt internalisiert die moralischen Urteile eines fiktiven, aber als Bild in realen Interaktionen gewonnenen „unparteiischen Zuschauers“, der gleichsam sine ira et studio das Maß der Gerechtfertigkeit des Verhaltens bestimmt. Walther Eckstein schreibt dazu im Vorwort der „Theorie der ethischen Gefühle“: „Das Kriterium des Sittlichen ist für Smith der Standpunkt des von uns vorgestellten unparteiischen Zuschauers. Anders ausgedrückt: Gut ist diejenige Handlung oder Charaktereigenschaft, welche uns auch dann noch als gut erscheint, wenn wir sie von dem Standpunkt des (vorgestellten) unparteiischen und wohlinformierten Zuschauers aus betrachten.“ Die Imagination des „unparteiischen Zuschauers“ bremst so den Egoismus des Individuums. Dieses Konzept hatte weitreichende Folgen in Philosophie und Soziologie. Immanuel Kant war begeisterter Leser der Schriften Adam Smiths, und ohne Zweifel hat der „unparteiische Zuschauer“ bei der Entwicklung und Abfassung des „Kategorischen Imperativs“ Pate gestanden. Ebenso finden wir Spuren bis in die moderne Soziologie, so im „generalized other“ von George Herbert Mead.

Ohne Zweifel war Smith ein „Schönwetter-Philosoph“ der bürgerlichen Gesellschaft. Er glaubte, wenn das Individuum von den obrigkeitsstaatlichen Polizeiregelungen freigesetzt werde, wenn es seine durch ethische Gefühle auf ein mittleres Niveau gedämpften Neigungen und Egoismen einsetze, daß sich dann im Sinne einer vorgegebenen („prästabilierten“) Harmonie ein für alle optimaler Gesellschaftszustand einstelle. Die Transformation der unterschiedlichen Interessen in einen harmonischen Gesamtzustand soll nach Smith durch einen „Betrug der Natur“ vonstatten gehen. Die Menschen sähen nämlich nur die Annehmlichkeiten des Reichtums, sie sähen nicht die Mühe und die Aufgabe von Bequemlichkeiten, um diesen zu erlangen. Trotz Selbstsucht und Raubgier, so schreibt er, „werden sie von einer unsichtbaren Hand dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustande gekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter all ihren Bewohnern verteilt worden wäre, und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft und gewähren die Mittel zur Vermehrung der Gattung“.

Der Umschlag der vielen egoistischen Interessen in einen harmonischen Gesamtzustand erfolgt im wesentlichen durch den Marktmechanismus. Sind beispielsweise die Profitinteressen der Produktionsmittelbesitzer unlimitiert, so werden eben doch als Resultat der Interaktionen vieler Marktteilnehmer die Realisationschancen von Profit durch die Gesamtbewegung des Marktes eingeschränkt. Nur so viele Profitbedürfnisse werden lizenziert, wie der einzelne Produzent an gesellschaftlich notwendiger Wertmasse produziert hat, wobei sich das gesellschaftlich Notwendige erst ex post herauskristallisiert. Dieser Gesamtzusammenhang ex post stellt so nach Smith nicht nur eine Restriktion individueller Profitwünsche dar, er bündelt die unterschiedlichen Bestrebungen der Menschen auf ein Drittes, auf einen gesellschaftlichen Zusammenhang, der als Gemeinwohl umschrieben werden kann.

Auch an dieser Stelle erweist sich Smith als „Schönwetter-Philosoph“ des Kapitalismus. Leidvoll wissen wir, daß die unsichtbare Hand des Marktes auch genau in die dem Gemeinwohl abgewandte Richtung wirken kann, in die Richtung von Depression und Wirtschaftskrise.

Immerhin betont Smith, und da können wir noch heute von ihm lernen, daß der Kapitalismus durch ethische Gefühle begrenzt sein muß, wenn er seine positive Wirkung entfalten soll. Allerdings finden wir in der Annahme einer natürlichen Neigung der Interessenmoderation wiederum einen frühliberalen Euphemismus. Heute wissen wir, daß die Egoismen der Menschen nur auf ein sozial akzeptierbares Maß zurückgefahren werden können, wenn funktionsfähige soziale Institutionen den Menschen „soziabilisieren“; die Rücksichtnahme auf den „unparteiischen Zuschauer“ kann nur erfolgen, wenn über Sozialisation erworbene Normen und Werte (deren Beachtung auch institutionell erzwungen werden kann) den Egoismen der einzelnen Grenzen setzen.

Die Entwicklung des Turbokapitalismus hat viel mit dem Versagen dieser begrenzenden sozialen Mechanismen zu tun. Auch der Kapitalismus als Wirtschaftsordnung ruht auf sozialen Voraussetzungen, die gleichsam außerhalb seiner Räson liegen, die er aber als Voraussetzung seines längerfristigen Prozessierens braucht, sonst wird er selbstdestruktiv. Bereits Karl Marx wußte, daß das Kapital die „Gesellschaftlichkeit seiner Existenz“ nicht selbst herstellen kann. Die Produktion von Waren und Dienstleistungen ruht auf sozialen Prämissen, die sich der marktmäßigen Vergesellschaftung entziehen und die auch über marktkonforme Vergesellschaftungsmuster nicht reproduziert werden können.

Der Turbokapitalismus ist dadurch gekennzeichnet, so der Soziologe Helmut Dubiel, daß der Marktmechanismus über den Kernbereich der Wirtschaft entgrenzt und in weite gesellschaftliche Bereiche überdehnt wurde; er wird nicht mehr durch nicht-marktförmige Kulturbestände in Schach gehalten. Marktkonforme Vergesellschaftungsmuster haben sich universalisiert und zerstören traditionelle Kulturbestände und Sinnstrukturen der Lebenswelt, die ihre Wurzeln in familialen Traditionen und in vorkapitalistischen, ständisch-handwerklichen und bäuerlichen Traditionen haben.

Wer Staat, Familie und Religion entfunktionalisiert und diese lediglich als Zuträger für individuelle Selbstverwirklichungsbedürfnisse gelten läßt, muß sich nicht wundern, wenn zügelloser Egoismus zum bestimmenden Moment der Wirtschaftsordnung wird.

Die Individuen übernehmen zunehmend einen marktkonformen Sozialcharakter: Es dominiert das utilitaristische Kalkül, die Statuskonkurrenz und eine strategische Rationalität. Tugenden wie Altruismus, familienbezogene Solidarität, Pflegebereitschaft, Ethik der Arbeit, Gehorsam gegenüber Gesetzen, Respekt vor Autoritäten werden immer weiter zurückgedrängt. Nach Dubiel hat die Universalisierung dieser marktkonformen Vergesellschaftungsmuster gründlich diese vormodernen Kulturbestände zerstört, die aber für den gesellschaftlichen Integrationsprozeß unverzichtbar sind, weil kapitalistische Marktgesellschaften sich alleine über die Vergesellschaftung durch den Markt nicht stabilisieren können.

Der Kapitalismus ist jenseits der Wirtschaftsordnung auf gesellschaftliche Institutionen angewiesen, die gerade nicht nach seinem Muster organisiert sind. Diese Institutionen schaffen erst die Voraussetzungen dafür, daß dieser funktioniert, ohne destruktiv zu werden. Zu diesen Institutionen gehört zunächst einmal der Familienverband, wo elementare Sozialisationsleistungen erbracht werden, auf die alle anderen gesellschaftlichen Institutionen zurückgreifen; zu diesen Institutionen gehören aber auch Bildungseinrichtungen und gesellschaftliche Korporationen und letztlich auch der Staat, der den Ordnungsrahmen des Wirtschaftens vorgibt. Versagen diese Institutionen, so wird die Profitgier und das schnelle Abzocken zum gesellschaftlichen Leitmotiv, die instrumentelle Vernunft erobert alle gesellschaftlichen Bereiche, der Mensch reduziert sich selbst zum homo oeconomicus.

Gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise ist die Gefahr groß, daß der Mensch, um das Bild von Thomas Hobbes wieder aufzunehmen, in einem Krieg aller gegen alle zum Wolf für den Mitmenschen wird („homo homini lupus est“). Adam Smith hat uns gezeigt, daß der Kapitalismus ohne die Sozialregulation der ethischen Gefühle (die eines institutionellen Unterbaus außerhalb des Marktes bedürfen) nicht überlebensfähig ist. Er mutiert zum „Raubtierkapitalismus“ mit allen destruktiven Folgen.

Bei der Betrachtung der aktuellen Diskussion über die kapitalistische Wirtschaftsordnung ist in diesem Zusammenhang interessant, daß die schärfsten Kritiker des Turbokapitalismus diejenigen sind, die auch durch ihre Kritik den sozialen Institutionen, die bislang den Kapitalismus in Schach hielten, den Boden entzogen haben. Wer Staat, Familie und Religion entfunktionalisiert und diese lediglich als Zuträger für individuelle Selbstverwirklichungsbedürfnisse gelten läßt, muß sich nicht wundern, wenn der zügellose Egoismus zum bestimmenden Moment (nicht nur) der Wirtschaftsordnung wird. So gesehen kritisieren die Kritiker des Kapitalismus sich selbst. Sie kritisieren die Folgen ihrer eigenen Politik. Darin scheint heute übrigens generell das Geschäft der politischen Klasse zu bestehen, nämlich Probleme zu bearbeiten, die sie selber mit verursacht hat. Es bleibt die Hoffnung, daß dies eines Tages vom Gros der Bevölkerung durchschaut wird.

 

Prof. Dr. Jost Bauch lehrt Soziologie an der Universität Konstanz. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das Wahldebakel der CSU („Kein Weißbier ohne eine Virginia“, JF 42/08).

Foto: Familie, Kirche, Staat plattgewalzt durch linksliberale Dampfwalze:Die schärfsten Kritiker des Turbokapitalismus sind diejenigen, die auch durch ihre ätzende Kritik den sozialen Institutionen, die bislang den Kapitalismus in Schach hielten, den Boden entzogen haben.

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