© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/09 25. September 2009

Umfassend, aber ohne Utopien
Harro Zimmermanns große Biographie des romantischen Geisteswissenschaftlers Friedrich Schlegel
Wolfgang Saur

Als literarisch sensationell kann die Publikation einer umfassenden Würdigung Friedrich Schlegels (1772–1829) als Haupt der romantischen Schule gelten. Harro Zimmermann, Kulturredakteur bei Radio Bremen und Neugermanist an der dortigen Universität, legt als Resultat seiner gewaltigen Vorarbeit jetzt eine voluminöse Monographie zu Leben und Werk vor.

Kennern des Deutschen Idealismus galt solch eine problemorientierte, intellektuelle Biographie stets zu Recht als großes Desiderat. Gut hundert Jahre lang haben wir auf sie gewartet. Die Aufgabe war allerdings gewaltig: Nicht nur galt es, Schlegels riesigen Gedankenreichtum zusammenhängend zu deuten, sondern sein Leben exemplarisch als Metamorphose des romantischen Programms, von den Anfängen bis zur Theosophie und „Staatswissenschaft“ der Spätzeit, plausibel zu machen. Denn außer Jo-seph Görres war keiner so universell wie Friedrich Schlegel. Die Überkomplexität seines Denkens mit der intern logischen, nach außen freilich schillernden Vielseitigkeit der Themen und Positionen hat so zu einer nur partiellen Wahrnehmung und ganz spezialistischen Forschung geführt und divergente Wertungen provoziert. Diese mutig zu integrieren, wurde mit der Zeit immer unwahrscheinlicher. Anders als die romantischen Poeten hat Friedrich Schlegel so in den letzten Jahrzehnten keine bündige Gesamtdarstellung erfahren.

Überhaupt könnte sein geistesgeschichtliches Schicksal im Kanon deutscher Kultur trister nicht sein. Zu Lebzeiten angefochten, erging es seinem Nachruhm nicht besser. Verleumdungen und Mißverständnisse, Klischees ohne Ende decken seine Gestalt bis heute zu. Schließlich hatte Schlegel alle gegen sich, der Universalist konnte es keinem recht machen. Dazu kam die Zerstreuung seines Nachlasses, dann Unterdrückung durch die Görres-Gesellschaft, der Schlegel kirchlich und theologisch inopportun erschien. Erst als der literarische Schatz 1945 in Wien auftauchte, war der Weg frei für eine umfassende Edierung.

Die besorgte seit 1958 Ernst Behler (gestorben 1997), der zum besten Schlegel-Kenner aufstieg, dem einzigen, der seinem Gegenstand auch philosophisch gewachsen war. Bei allem Respekt vor dieser editionspraktischen Großtat, kam sie effektiv doch zu spät. Die deutsche Romantik hat nur wenig nachgewirkt, am meisten noch die historischen Wissenschaften hermeneutisch befruchtet. Eine vitale Aufnahme ihrer Ideen gab es nur in den 1920er Jahren; der Bruch von 1945 schnitt diese Wirkung ab. Selbst Rüdiger Safranskis informiertes Buch  von 2007 entzieht dem romantischen Ideengut jede Brisanz; es ästhetisiert und privatisiert seine Motive radikal, schneidet sie also von öffentlicher Einwirkung ab.

Die Fixierung auf die Frühromantik treibt unentwegt Studien hervor. Freund und Feind fixierten Schlegel auf sein Frühwerk: Schriften zur antiken Poesie, aktuelle Literarkritik, witzige Aphorismen und irisierende Fragmente, dann den allegorischen Hybridroman „Lucinde“. So interessant poetologische Reflexion, literarisches Experiment und hintersinnige Moralistik der Jahre 1795 bis 1800 auch sein mögen, so folgen auf sie doch das Indienbuch (1808) und die gewaltigen Vorlesungsreihen in Paris (1802–04), Köln (1804–08), Wien und Dresden (1808–29) zur Philosophie, Geschichte, Weltliteratur – viele Jahre und lange Wege also, in denen Schlegel seine enzyklopädische Bildungstheorie in eine universale philosophia perennis überführte und so zum integralen Traditionalisten wurde.

Nicht zu übersehen seine privaten Notizen, die thematisch von der Politik über Seelenkunde bis zur Theologie reichen und oft überaus radikal, ja esoterisch ausfallen. So füllten sich 35 Bände, die gleichwohl kaum Beachtung fanden. Typisch die Situation im Germanischen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin: Von der säuberlich aufgestellten Edition in bequemer Reichweite sind die ersten zwei Bände fast ganz zerlesen, die restlichen 33 unberührt. Das Weltbild des grüblerischen Romantikers, seine theosophische Lehre von Zerfall und Wiederherstellung des Menschen, der Welt, des Bewußtseins – das kühne Gebirge seiner Metaphysik mit ihren Gipfeln von Reich, Kaisertum, Kirche, geistlicher Revolution und österlicher Umkehr – galt Kritikern wie Fachleuten entweder für Quark oder schlicht als reaktionär.

Desto nötiger erschien da eine weitherzige Überschau, die erstmals den ganzen Schlegel dem literarischen Publikum ausbreiten würde. Was eine Darstellung empfahl, die Fachleute wie Laien ansprach, dabei wechselnde Bedürfnisse befriedigte. Prominente Beispiele dieser Art geben Karlaufs Buch über Stefan George (2007) oder Schiwys Eichendorff-Biographie (2000).

Um so enttäuschender fällt nun der vorliegende Band aus, der unsere zukünftige Referenz doch sein wird. Zimmermanns Studie, ein reines Fachbuch, ist ohne beträchtliche Vorkenntnisse schlicht unverständlich. Zwar beeindruckt die gewaltige Arbeitsleistung: Der Autor übersieht nicht nur die Quellen, sondern auch Berge von Forschungsliteratur. Leider durchsäuert und beschwert diese seinen Text mit all den modischen Fragestellungen: zu Kommunikationssystemen, Salonkultur, Intellektuellenrollen, literarischem Markt, „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, Modernisierung, Emanzipation, Medien und natürlich den „Diskursen“. Diese Wertkriterien steuern den Text allseitig, sie oszillieren zwischen Adorno, den Poststrukturali­sten und Habermas, ergehen sich erneut in einer emphatischen Beschwörung der Frühromantik im Zeichen von radikaler „Aufklärung“ und „Ironie“ und münden in den anarchischen Überbietungswahn des endlos Pluralen, Perspektivischen, (Selbst-)Reflexiven, Paradoxen, Verän-derlichen, ja Konfusen, was auch Zimmermann als „destruktiv im Sinne von Skepsis und Entlarvung“ notiert. Mit einem Wort: Das neue Interesse an der Romantik, zumal bei Leuten wie Karl Heinz Bohrer, kreist im Horizont einer zweiten Moderne, nach dem Bankrott der Utopien, um die progressive Entfesselung des Einzelnen, der Widersprüche, einer radikalen Dezentrierung.

Ein antiidentitärer Multikulturalismus wird forciert, der das Gleichheitsproblem negativ lösen soll. Da kommt die dekonstruktive Ironie als Möglichkeitsspiel gerade recht und wird uns als sozialkulturelles Modell angedient. Diese Rückprojektion deckt sich indes mit dem weltanschaulichen Restaurationsprojekt der Romantik kaum, deren metaphysisches Denken in Seinsschichten die Wiedergewinnung des substantiellen Ideen-, ja Gottesbezugs erstrebte. Es überrascht deshalb, daß Zimmermann im zweiten Teil die geschichtsphilosophischen Weiten der gnostischen Vision Schlegels so geduldig durchmißt.

Hier liegt das unbestreitbare Verdienst seiner Gewaltstour. Wenn diese nicht überzeugt, so deshalb, weil nur energischer Durchdringung und einem authentischen Philosophieren der Totalitätsanspruch dieses Programms einholbar wäre. Statt dessen degeneriert sein „Diskurs“ zum endlosen Referat, in dem Schilderung, Zitat und Kommentar vollends zur monoton-konturlosen Darstellung verfließen. Die erweist sich überdies als maximal unanschaulich, proportioniert oft falsch, bietet biographische Daten nur minimal, ufert desto exzessiver aus. Größtes Manko schafft die penetrante Ausblendung der Polit-historie, die ganz überlagert wird vom „friedlichen Austausch eines intellektuell konzertierenden Europa“ à la Habermas und Winkler, in dem der patriotische Widerstand der Völker freilich nur peinlich wirkt.

Wozu das Ganze, weiß man nicht, denn der Schein des Vortrags, Zimmermann könne Schlegels metaphysischer Aufrüstung womöglich etwas abgewinnen, trügt. Am Schluß wird die Romantik nochmals der Aufklärung (die sie bekämpfte) als „reflexiv funkelndes Spaltprodukt“ samt „arabesken Leuchtspuren“ zugeschlagen. In „der ruhelosen Reflexivität des modernen Zeitalters“ mag sie als intern kritische Funktion der sich „ins Lebensfreundliche und Gerechte umarbeitenden Zivilisation“ dienlich sein. Schlegels Sehnsucht nach seiner deutschen Heimat, die ihn zu jeder Zeit abwies, wird Utopie bleiben.

Harro Zimmermann: Friedrich Schlegel oder Die Sehnsucht nach Deutschland. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2009, gebunden, 453 Seiten, 38 Euro

Foto: Friedrich Schlegel um 1790 und der deutsche „Diskurs“: Mißverständnisse und Klischees decken seine Gestalt bis heute zu

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen