© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/09 25. September 2009

Fundamente des Gemeinwesens
Jetzt ist guter Rat teuer
von Baal Müller

Der von der Berliner Bürgerinitiative „Pro Reli“ im Frühjahr angestrengte (und gescheiterte) Volksentscheid zur Durchsetzung einer Wahlfreiheit zwischen dem in Berlin verbindlichen Fach Ethik und dem Wahlfach Religion verweist auf eine Frage, die gerade auch im Zusammenhang mit Debatten über Parallelgesellschaften, Multikulturalismus, „Ehrenmorde“ usw. immer wieder im Raume steht, selten aber – vielleicht weil sie offiziell als beantwortet gilt – explizit formuliert wird: Braucht „die Gesellschaft“ ein religiöses Fundament oder genügen ethische Regeln des Zusammenlebens?

Für den Ethik-Befürworter ist die Sache einfach (und wir möchten seine Position aus hermeneutischen Gründen positiv profilieren und ihm keine pauschale Religionsfeindlichkeit oder das Bestreben vorwerfen, die Jugend für irgendeine modische Ideologie pädagogisch zu instrumentalisieren): Der moderne Staat ist, wenn nicht laizistisch, so doch weltanschaulich neutral; Religion ist – auch wenn die Amtskirchen in Deutschland aus historischen Gründen noch einen fragwürdigen Sonderstatus genießen – Privatsache, die Gesellschaft aber muß sich, gerade wenn sie sich aus vielerlei unterschiedlichen Milieus zusammensetzt, auf etwas für alle Verbindliches einigen, das im Rechtssystem sowie in den ethischen Prinzipien besteht, die diesem zugrunde liegen. Ob diese ursprünglich auf religiöse Quellen zurückgehen bzw. deren praktischer Ausdruck sind, ist zweitrangig; entscheidend ist ihre Geltung und nicht ihre historische Genese.

Ethik ist, da ihre Gesetze für alle gelten, der Religion als Angelegenheit subjektiven Glaubens unbedingt übergeordnet und daher als Schulfach nicht disponibel. Zwar gibt es unterschiedliche Moralsysteme, aber die Ethik kann (oder darf) nur eine sein und muß, wenn sie nicht in einer göttlichen Offenbarung begründet ist, „intersubjektiv“ ausgehandelt werden, wobei eine streng rationale „Diskursethik“ sicherstellen soll, daß dabei nicht nur ein Basar verschiedenster Gewohnheiten und Vorurteile, sondern ein System von Prinzipien herauskommt, das – bei gutem Willen bzw. entsprechend förderlicher Nachhilfe – als evident einleuchtet.

Natürlich wird dieser Diskurs de facto niemals herrschaftsfrei organisiert, da weder Macht- und Lobbyinteressen ausgeschaltet noch alle potentiellen Teilnehmer gleichermaßen beteiligt werden können, und er verläuft daher auch nicht rein rational, aber es wäre zu billig, einem abstrakten Ideal die empirischen Schlacken anzulasten, die seinen Verwirklichungsversuchen hier und da anhaften. Ähnlich wie die Gesetze der Mathematik auch dann gelten, wenn sie ein Schüler unbeholfen an den Fingern abzählt, oder Dreiecke „an sich“ nicht grün oder blau sind, weil sie mit entsprechenden Farbstiften gezeichnet wurden, sollten die Gesetze des Guten selbst dann noch gelten, wenn sie der Böse im Munde führt.

Das Hauptproblem einer jeden rationalen und diskursiven Ethik ist nicht die eifernde Herrschsucht, mit der ihre Vertreter ihr – wie wir voraussetzen wollen – gutgemeintes Anliegen zuweilen konterkarieren, sondern ihr Formalismus als solcher. „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“, lautet der Kategorische Imperativ, in dem Kant zwar als Appell an den einzelnen, aber doch gerade auf die Allgemeinheit bezogen, bereits den Universalismus der reinen Gesetzlichkeit als Grundprinzip der Diskursethik von Habermas, Karl-Otto Apel und anderen vorwegnimmt.

 „Stell’ dir vor, jeder würde seinen Müll einfach irgendwohin werfen“, mahnt man sein Kind, das Gemeinwohl zu bedenken und den Abfall bis zum nächsten Mülleimer mitzunehmen. Ist es aber – wenigstens für die meisten – unmittelbar einsichtig, daß eine gepflegte Umwelt der Verwahrlosung des öffentlichen Raumes vorzuziehen ist, so besagt das formale Prinzip der allgemeinen Geltung als solcher noch nichts darüber, was im konkreten – und oft komplexeren Fall – zu tun ist: „Du sollst nicht töten.“ Aber gibt es nicht doch Fälle, in denen eine Tötung das kleinere Übel darstellt?

Es erscheint evident, daß die Ehe zwischen Mann und Frau schon allein deshalb jeder homosexuellen Verbindung ethisch und juristisch vorzuziehen sein sollte, weil sie den natürlichen Fortbestand des Gemeinwesens ermöglicht, während grundsätzliche Fortpflanzungsverweigerung dem Kategorischen Imperativ nicht Genüge tut. Dennoch sind Situationen denkbar, in denen, etwa aufgrund von Überbevölkerung oder Nahrungsmittelknappheit, eine (zeitweilige) Förderung der Homosexualität dem Gemeinwohl entsprechen könnte. Und im Extremfall kann sich, wie Norbert Hoerster dargelegt hat, auch ein Dieb auf Kant berufen, wenn er seinen Diebstahl damit rechtfertigt, daß er Eigentum prinzipiell ablehne.

Aus dem Gebot, das allgemeine Wohl bei seinen Handlungen zu bedenken, folgt weder ein Hinweis, was diesem in concreto nütze, noch ist der Geltungsbereich der allgemeinen Gesetzgebung hinreichend bestimmt. Ist das Gemeinwohl nur innerhalb der Nation oder auch hinsichtlich eines Staatsverbandes oder gar der „Weltgemeinschaft“ zu beachten? Gilt dieses Prinzip für alle möglichen Gesellschaften oder etwa im Konfliktfall vorzugsweise für die eigene Nation oder grundsätzlich für die „vernünftig verfaßte“ res publica, auch wenn es sich dabei um ein fremdes Gemeinwesen handelt?

Der ethische Formalismus entbehrt, worauf schon Schopenhauer und im zwanzigsten Jahrhundert vor allem Max Scheler hingewiesen haben, eines konkreten, materialen Gehaltes, oder, auf das Gemeinwesen insgesamt bezogen: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde). Kein „Verfassungspatriotismus“ vermag die gegenüber der Verfassung geforderte Loyalität oder gar Opferbereitschaft zu begründen; Legalität bedarf, um als solche akzeptiert zu werden, der Fundierung in einer vorgesetzlichen Legitimität.

Hier ist nun der Punkt, an dem der „politische Theologe“ ansetzt: Die „reaktionäre“ Aufklärungs- und Demokratisierungskritik hat stets darauf hingewiesen, daß nur eine religiöse Fundierung der Moral deren Befolgung durch die meisten sicherzustellen vermag bzw. daß die säkulare Begründung diejenigen Prinzipien, die sie herzuleiten sucht, im Ergebnis entweder relativistisch auflöst oder durch Hypostasierung im Rahmen neuer Ersatz- oder „Zivil“-Religionen vergötzt und dadurch ebenfalls zerstört.

Befolgung ist zwar nicht gleich Geltung, und „die meisten“ sind nicht die Allgemeinheit, aber eine ethisch-religiös halbwegs homogene Gesellschaft kann es sich leisten, die Maßstäbe etwas tiefer zu hängen. Selbstverständlich kennt auch sie keinen herrschaftsfreien Diskurs, aber sie braucht ihn auch nicht allen tatsächlichen Hierarchien zum Trotz zu postulieren; und es genügt ihr, daß ihre Repräsentanten auf dem Thron oder hinter dem Altar – oft mehr schlecht als recht, aber immerhin noch glaubhafter als die gewählten, bezahlten oder bezahlenden Diskurs-Vorsprecher – als Ethik-Experten gelten, an denen man sich aus Tradition, das heißt weil es früher auch schon funktionierte, orientiert.

Jedoch sollte nicht vergessen werden, daß auch dieses leidliche Funktionieren seinen Preis hatte, der den Kosten der säkular-modernistischen Ideologien kaum nachsteht, sondern von den Parteigängern der – wie die Diskursethik reichlich idealisierten – Tradition vor allem deshalb als günstiger dargestellt werden kann, weil er in größeren Zeiträumen zu entrichten war. Jede religiös fundierte, traditionale Gesellschaft produziert ihre Ketzer, und manchmal – in zwar seltenen, aber schwerwiegenden Fällen – bildet der Typus des Ketzers die Sonderform des Philosophen aus, dem nicht nur das eine oder andere Dogma ersetzungsbedürftig erscheint, sondern dem mit allen Dogmen zugleich die ganze Welt fragwürdig wird. Wer aber plötzlich darüber zu staunen beginnt, daß die Dinge so sind, wie sie sind, wer ihnen auf den Grund gehen will, indem er sie, zumindest gedanklich, auseinandernimmt und wieder zusammensetzt, wer mit der Machart der Dinge zugleich die Fehler und Unstimmigkeiten in den Bauplänen erkennt oder zu erkennen vermeint, der läuft Gefahr, daß ihm die Hüter der Ordnung und des Althergebrachten vorwerfen, er verderbe die Jugend und lästere die Götter.

Wenn also die Welt von gestern gelobt wird, ist zu bedenken, daß auch diese bereits einen Zwischenzustand darstellte, fragil und vorübergehend eingependelt, daß vielleicht jede Gesellschaft von gewisser Dauer nicht allein auf einer sie stabilisierenden Tradition beruht, sondern auf Ausgleich und Kompromiß zwischen den Kräften der Beharrung und denen der Neuerung, des Infragestellens. Eine zu starre Ordnung bzw. Engführung des Überlieferungsstromes läßt diesen leicht aufschäumen und über die Ufer treten, aber wo man keine trennenden, einhegenden Ufer mehr zu dulden bereit ist, wird man bald überhaupt keinen Fluß mehr haben, weil alles sich verströmt und versickert. Der Konservative sollte daher, nebenbei bemerkt, weniger in der Bewahrung des Alten als vielmehr in der des rechten, das heißt pragmatisch-funktionalen, Maßes zwischen Altem und Neuem seine Aufgabe suchen.

Die neuzeitliche Ordnung, unsere „Welt von gestern“, war in vielerlei Hinsicht ein zeitweiliger Kompromiß – etwa zwischen den christlichen Konfessionen einerseits, zwischen Religion und (zumindest im Abendland) unweigerlich zur Säkularisierung treibender Wissenschaft andererseits –, und sie bestand in diesem relativen Gleichgewicht der Kräfte, das eher auf deren Schwäche als auf einem Ausgleich aus Vernunftgründen beruhte. Der Tiger konnte geritten werden, weil er schon ziemlich alt war.

Den Dreißigjährigen Krieg haben letztlich beide Konfessionen verloren – der Katholizismus büßte seine Alleingeltung ein, der Protestantismus führte das Zeitalter der Säkularisierung herauf, die sich schließlich auch gegen ihn richtete –, aber die moderne wissenschaftlich-rationale Kultur blieb noch für Jahrhunderte eine Angelegenheit bloß der Intellektuellen.

Vielleicht hätte dieser Kompromiß aufgrund der Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit der christlichen Religion, wenn sie sich auf ihre „Kernkompetenzen“ beschränkt, sowie der christlichen Prägung noch der meisten, nicht ideologisch fanatisierten Vertreter der Wissenschaft bzw. einer „wissenschaftlichen Ethik“ bewahrt werden können, aber Globalisierung, Migration und „Multikulturalismus“ führten in unserer Zeit zu einer Destabilisierung und Fragmentierung der Gesellschaft, die durch Sonntagsreden und das Inszenieren permanenter Dialog-Surrogate nicht zusammenzuhalten ist.

Wohlgemerkt ist gegen das Dialogprinzip als solches nichts einzuwenden, und es ist auch nicht von der Hand zu weisen, daß die großen Religionen in manchen ihrer ethischen Richtlinien Übereinstimmungen aufweisen – es ist jedoch ein Irrtum anzunehmen, daß geistige Verwandtschaft per se schon dem Frieden zuträglicher ist als kulturelle Differenz; oft sind es gerade die feindlichen Brüder, die „Rechtgläubigen“ und die „Ketzer“, die sich am erbittertsten bekämpfen, weil sie einander am schärfsten in Frage stellen, und weniger die, die sich fremder gegenüberstehen, die nicht um dieselben geistigen oder geographischen Räume konkurrieren und sich vielleicht sogar aus wechselseitiger Faszination annähern.

Und was heißt überhaupt „Verwandtschaft“ in geistigen Dingen? Offenkundig sind die drei abrahamitischen Religionen recht nahe miteinander verwandt, und wenn Christentum und Judentum Fundamente des Abendlandes bildeten, sollten sich daraus auch für den Islam Anschlußmöglichkeiten ergeben. Wie weit ist es aber von Jerusalem (oder Mekka) nach Athen, von der jüdisch-christlichen Welt zur griechischen, und um wie vieles leichter kann man Sokrates neben Buddha als neben Jesus und Mohammed stellen! Der landläufigen Meinung nach ist uns etwa ein Vietnamese oder Thailänder „fremder“ als der türkische oder arabische Muslim, aber die Kriterien solcher Einordnungen beruhen auf pauschalisierten Religionsversatzstücken, denen die soziale Realität deutlich widerspricht.

Erst recht sind solchen Betrachtungsweisen, die lediglich „soziale“ oder (wahlweise) „genetische“ Faktoren gegeneinander aufzurechnen wissen, komplexe kulturelle Phänomene nicht zugänglich. Geistige Verwandtschaft kann weder durch finanzielle Maßnahmen allein hergestellt noch durch Gentests bewiesen werden, sondern sie ist immer neu, in Dialog und Analyse, zu suchen und zu bestimmen. Die „Kampfzonen“ verlaufen dabei heute nicht mehr nur zwischen religiös fundierter und diskursiv-säkularer Ethik, zwischen Glauben und Wissenschaft, Tradition und Moderne, sondern zwischen verschiedensten Kulturen und Diskursen in unüberschaubarer und durchaus veränderlicher Staffelung von Nähe und Ferne; oft erscheinen die Kulturen einander unendlich fern und sind doch nur durch eine Wand aus Preßspan getrennt. Nicht mehr ein Tiger, sondern ein ganzer Zoo ist zu reiten.

 

Dr. Baal Müller ist Philosoph, freier Schriftsteller und Inhaber des Telesma-Verlags. Seine jüngste Veröffentlichung „Der Vorsprung der Besiegten. Identität nach der Niederlage“ ist in der Edition Antaios erschienen.

Foto: Das Kruzifix im Klassenzimmer: Die „reaktionäre“ Kritik an Aufklärung und Demokratisierung hat stets darauf hingewiesen, daß nur eine religiöse Fundierung der Moral deren Befolgung durch die meisten sicherzustellen vermag.

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