© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/09 02. Oktober 2009

Wohin steuert Deutschland?
Schwarz-gelber Pyrrhussieg / Der Umsturz des Parteiensystems /Konservative auf der Flucht vor der Union / FDP als neue bürgerliche Kraft
Dieter Stein

Es gab Bundestagswahlen in Deutschland, in denen es um Richtungsentscheidungen ging. 1969 – die Auseinandersetzung um eine neue Ostpolitik. 1980 – die Entscheidung zwischen Helmut Schmidt und Franz Josef Strauß unter der Parole „Freiheit oder Sozialismus“. 1983 – die Entscheidung über den Nato-Doppelbeschluß. 1998 – das rot-grüne Reformbündnis, Änderung des Staatsangehörigkeitsrechtes inbegriffen.

Die Wahl des Jahres 2009 konnte keine Richtungsentscheidung mehr sein. Sieben Jahre rot-grüne Koalition und vier Jahre Große Koalition stehen für tiefgreifende gesellschaftspolitische Weichenstellungen, denen sich die bürgerlichen Parteien unterworfen haben. Ein fundamentales Entweder/Oder in Kernfragen stand nicht mehr zur Debatte. Deutschland als Einwanderungsland, Homoehe, neues Familienbild, „Gender Mainstreaming“ – unter Angela Merkel wurde hinter allem ein Haken gemacht.

Entschieden wurde die Wahl unter dem Gesichtspunkt der heraufziehenden Verteilungskämpfe, die sich in der Folge von Finanz- und Wirtschaftskrise verschärfen werden. Die politisch Verantwortlichen befinden sich in einer Lage, einen schrumpfenden Kuchen aufteilen zu müssen. So schnell wie nie dreht sich die Schuldenspirale. Wir verspielen die Zukunft unserer Kinder und Enkel.

Eine abnehmende Zahl von Steuerpflichtigen muß künftig eine wachsende Zahl von Transferleistungsempfängern tragen. Dieser schwierigen Lage hat sich die SPD unter Gerhard Schröder mit ihren Hartz-Reformen im Ansatz gestellt – und sie bezahlt dies jetzt mit ihrem Ende als Volkspartei.

Verheerend ist, daß der Mut zu notwendigen Reformen bestraft wird. Hätte Schröder die Bürger für die Einschnitte patriotischer einnehmen sollen? Wurde die Agenda 2010 zu kalt umgesetzt? Merkel hat daraus jedenfalls Konsequenzen gezogen. Das Schicksal der von Lafontaines Linkspartei massakrierten SPD vor Augen und ihren eigenen gescheiterten Reform-Wahlkampf von 2005 im Gedächtnis, wird sie den in der Großen Koalition beschrittenen Weg nicht mehr verlassen.

Den Deutschen des Jahres 2009 kann man offenbar nicht mehr mit Blut, Schweiß und Tränen kommen. Noch nie war soviel Staat und sowenig Eigenverantwortung. Selbst für Pleite-Banken wurden milliardenschwere Rettungsschirme aufgespannt, weder Bankmanager, die Milliarden verzockten, fallen wegen ihrer Fehlspekulationen ins Bodenlose, noch stürzen Menschen ins Elend, die sich Erwerbsarbeit konsequent verweigern. Ob Stütze oder Subvention: Der Staat zahlt. Noch nie hat das Anspruchsdenken Generationen so sehr geprägt wie heute. Eine schrumpfende Mittelschicht, die die Steuer- und Abgabenlast des geschröpften Gemeinwesens trägt, hat sich deshalb bei dieser Wahl hilfesuchend Gehör verschafft. Dies ist eine wesentliche Ursache für das historisch beste Ergebnis, das die FDP seit 1949 eingefahren hat.

Die Wähler haben am vergangenen Sonntag das alte westdeutsche Parteiensystem endgültig beerdigt. 1976 stimmten noch 91,2 Prozent der Wähler für SPD und CDU/CSU, 2009 nur mehr 56,8 Prozent. Die SPD als Volkspartei – sie ist vorerst Geschichte. Als Konservativer muß man das beklagen, denn damit hat sich zugleich die Linkspartei als Erbin der SED/PDS im Westen fest etabliert.

Die SPD sah sich, eingebunden in die Verantwortung der Großen Koalition, in einer strategischen Zwickmühle: auf der einen Seite die von dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden und begnadeten Volksredner Oskar Lafontaine geführte Linkspartei, die mittlerweile den Anspruch erhebt, die wahre sozialdemokratische Partei zu sein, und damit ins Mark alter Sozis trifft; auf der anderen Seite eine CDU/CSU, die sich in fast allen gesellschaftspolitischen Fragen der SPD so weit angenähert hat, daß sie nicht zu Unrecht als „zweite sozialdemokratische Partei“ bezeichnet wird. Wo ist da noch Raum für die SPD?

In einem engen Zeitfenster hat eine Regierung Merkel/Westerwelle jetzt die Möglichkeit, ihre gewonnene Mehrheit in politische Entscheidungen umzumünzen: Durch den zeitgleichen Sieg von Schwarz-Gelb in Schleswig-Holstein verfügt sie auch weiterhin im Bundesrat über eine eigene Mehrheit, um zustimmungspflichtige Gesetze durchzusetzen. Doch die Opposition sitzt schon in den eigenen Reihen. Jürgen Rüttgers, der sich selbst nicht ohne Erfolg als Arbeiterführer an der Ruhr inszeniert, will im Mai 2010 im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW wiedergewählt werden, und er wird Druck ausüben, daß Berlin keine sogenannten „Grausamkeiten“ beschließen wird.

Das föderale System und die dichte Folge von Wahlterminen entledigt die Regierenden weitgehend von dem Zwang zu harten Entscheidungen. Zumindest reden sie sich das ein. Der Fall SPD zeigt aber auch, wie grausam Reformpolitik in einem Land bestraft wird, in dem Transferleistungsempfänger schon jetzt in sieben Bundesländern und in wenigen Jahren überall die Mehrheit der Wahlberechtigten stellen.

Die knappe bürgerliche Mehrheit aus Union und FDP könnte sich schon bald als Pyrrhussieg und realer Linksruck entpuppen:

Die Linkspartei wurde in zwei Bundesländern (Brandenburg und Sachsen-Anhalt) stärkste Kraft, sie ist jetzt in allen westlichen Bundesländern fest etabliert. Finanziell und personell gestärkt, wird sie die SPD noch schärfer in die Zange nehmen. An der Linkspartei vorbei wird für die SPD kein Weg mehr zu linken Mehrheiten führen, deshalb brechen jetzt alle Dämme. Rot-Dunkelrot-Grün wird 2013 auch im Bund als Alternative zur Wahl stehen.

Innerhalb der SPD wiederum setzt die Linke zum Sturm an die Spitze an. Müntefering ist entmachtet und Steinmeier angezählt.

Linkspartei und Grüne bilden jetzt mit der auf die Oppositionsbänke verwiesenen SPD einen starken Linksblock, der nun auch wieder außerparlamentarisch mit den Gewerkschaften Hand in Hand Front gegen die Regierungspolitik machen kann.

Demgegenüber steht die Union nicht gestärkt, sondern geschwächt da: Unter Angela Merkel hat sie nur Wahlen verloren, holte jetzt das zweitschlechteste Wahlergebnis seit 1949. Die niedrigste Wahlbeteiligung bei einer Bundestagswahl zeigt, daß nicht nur die SPD, sondern auch die Union Anhänger an die Nichtwähler verloren hat. In traditionell „schwarzen“ Bundesländern verloren CDU und CSU dramatisch: in Baden-Württemberg minus 4,8 und in Bayern minus 6,7 Prozentpunkte. Die Gründe scheinen vielfältig: Die norddeutsch-protestantische Kanzlerin hat insbesondere katholisch-konservative Wähler durch ihre Papstschelte, aber auch die das traditionelle Familienbild beschädigende Politik unter Ursula von der Leyen vergrault. So wanderten selbst viele Konservative zur FDP ab, die wenigstens noch für eine familienfreundlichere Steuerpolitik steht.

Für die Union schlägt jetzt die Stunde der Wahrheit. Sie wird sich in ihrer eigenen Konturlosigkeit, in den von ihr mitgetragenen politischen Kompromissen künftig nicht mehr auf die Zwangslage einer Großen Koalition berufen können. Einige CDU-Politiker wie Christian Wulff behaupten jetzt, es gebe nun die Chance für „CDU pur“, nun würden auch wieder „wertkonservative, liberale Positionen“ (Wulff) stärker kenntlich gemacht. Doch was ist heute noch „CDU pur“? Wo sind denn die konservativen Positionen der Union? Viele Bürger haben übrigens irritiert registriert, wie nonchalant Ministerpräsidenten der Union ihre Ehefrauen wechselten. Daß zeitgleich der Widerstand gegen ein „neues Familienbild“ aufgegeben wurde, paßte ins Bild.

Tatsächlich ist die CDU/CSU schon heute gar nicht mehr mit dem Anspruch eines gesellschaftspolitischen Gegenentwurfs zur Linken angetreten. Die Union weiß nicht mehr, wofür sie steht. 1983 stand noch der Anspruch einer „geistig-moralischen Wende“ im Raum, worunter Unionskonservative ein Rollback verstanden, das tiefgreifende Fehlentscheidungen der sozial-liberalen Koalitionen korrigierte. Dem stand jedoch nicht nur der Koalitionspartner FDP entgegen, sondern auch eine CDU-Führung, die unter Kohl, Geißler und Süssmuth die Partei mit dem Zeitgeist vermählte.

Die Geschichte der CDU ist die Geschichte des Verrats an ihren konservativen Fundamenten, die Erledigung ihres konservativen Flügels. Bislang hat sich die Union mit ihrem Appeasement gegenüber dem Zeitgeist erfolgreich durchsetzen und an der Macht halten können. Es darf bezweifelt werden, daß deshalb aus den massiven Stimmenverlusten, die CDU und CSU gerade in den katholisch-süddeutschen Regionen zu verbuchen haben, Rückschlüsse gezogen werden, an diesem Kurs etwas zu ändern.

Es würde europäischer Normalität entsprechen, wenn sich jetzt das deutsche Parteiensystem auch auf der Rechten ausdifferenzierte. Nach dem Niedergang der SPD als Volkspartei muß derjenige der CDU zwingend folgen. Es ist höchste Zeit für die Formierung eines starken konservativ-freiheitlichen Widerlagers, das die Union von rechts unter Druck setzt. Der Wandel der FDP zu einer nationalliberalen Kraft ist in der Vergangenheit bereits vergeblich versucht worden, ebenso wie die Ausdehnung der CSU – beides  keine realistischen Optionen. Ein Blick über die Grenzen, nach Österreich oder Dänemark zeigt, daß Parteien dieses Zuschnitts bis zu 25 Prozent stark werden und allein durch ihre Existenz Politik verändern können.

Eckpunkte einer solchen konservativ-freiheitlichen Kraft müßten sein:

Verteidigung des exklusiven Schutzes der Ehe und der Autonomie der Familie gegen Eingriffe des Staates und die Ideologie des „Gender Mainstreaming“

Aktive Bevölkerungspolitik, Mut zur Elternschaft, Schutz des Lebens und Stopp der Tötung von jährlich hunderttausend ungeborenen Kindern, für eine demographische Wende gegen den Niedergang unseres Volkes

Klare Begrenzung der Einwanderung und eine Integrationspolitik, die dem Leitbild nationaler Identität verpflichtet ist; für diese Kraft müssen auch erfolgreich integrierte Einwanderer gewonnen werden

Mehr Freiheit und weniger Staat bei gleichzeitiger Stärkung der Inneren Sicherheit nach dem Prinzip Law and Order und eine Renaissance des nationalstaatlichen Ordnungsrahmens als Solidarraum der ganzen Gesellschaft

Verteidigung von Meinungsfreiheit und Bürgerrechten gegen einen totalen Staat

Es wird jedoch völlig neuer Formen politischer Mobilisierung bedürfen. Die Piratenpartei zeigt dies mit einem gerissenen Internet-Wahlkampf: 13 Prozent der männlichen Erstwähler machten ihr Kreuz bei dieser Anti-Zensur-Truppe. Das Parteiensystem ist in Bewegung. Darin könnte eine Chance für die Konservativen liegen.

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