© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/09 02. Oktober 2009

Honecker wollte die chinesische Lösung
Michael Richter legt ein detailreiches Standardwerk über die verschiedenen politischen Ebenen der friedlichen Revolution 1989/90 vor
Thorsten Hinz

Auf 1.500 Seiten entrollt Michael Richter, Mitarbeiter am Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismus-Forschung, das Panorama der Krise, der Agonie und Auflösung der DDR. Dazu nimmt er die zehn Monate von den Kommunalwahlen im Mai 1989 bis zur Volkskammerwahl im März 1990 unter die Lupe. Bei den Kommunalwahlen hatten erstmals eine nennenswerte Anzahl der Wähler den Einheitslisten die Zustimmung verweigert. Die SED-Führung fälschte daraufhin die Zahlen, was die Gesellschaft in nie dagewesener Weise politisierte. Zur selben Zeit lockerte Ungarn sein Grenzregime. Am 9. Oktober stellte die große Leipziger Montagsdemonstration die Machtfrage, einen Monat später fiel die Mauer. Bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 kam die Kohl-nahe Allianz für Deutschland dicht an die absolute Mehrheit. Der Rest war Abwicklung.

Die Ereignisse werden auf vier Ebenen betrachtet und miteinander in Beziehung besetzt: auf der lokalen bzw. regionalen, der staatlichen, der innerdeutschen sowie auf der Königsebene der Supermächte. Es war stets klar, daß das SED-Regime nur zu überwinden war, wenn die Sowjetunion das zuließ. Die DDR war ihre Kriegsbeute, die im Unterschied zu den anderen Staaten des Ostblocks keine nationalstaatliche Grundlage hatte. Mit jeder innenpolitischen Lockerung erhob sich daher am Horizont die deutsche Frage. Folglich mußte Moskau der Eindruck vermittelt werden, daß es mit einer Preisgabe der DDR nichts riskierte.

Generalsekretär Gorbatschow, seit 1985 im Amt, hatte begriffen, daß das Wettrüsten gegen die USA nicht zu gewinnen war. Für die Reform von Ökonomie und Gesellschaft brauchte er den Westen und war dafür zu Konzessionen bereit. Die Breschnjew-Doktrin, die die Politik der Bündnispartner unter strikten sowjetischen Vorbehalt stellte, wurde gelockert. Für die DDR hatte das unmittelbare Folgen. Als Außenminister Oskar Fischer auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle im Sommer 1989 nach Ungarn reiste, gelang es ihm nicht mehr, seinen Amtskollegen Gyula Horn auf die gemeinsame Verurteilung des „BRD-Militarismus“ festzulegen. Die ungarischen Kommunisten sahen in der Bundesrepublik längst den künftigen Partner. Wenig später erlaubte Horn den DDR-Flüchtlingen die Ausreise. Die erstarrte DDR-Führung war für die meisten ihrer „Bruderländer“ zum Ärgernis geworden.

Die internationale Isolation der DDR-Führung hatte Rückwirkungen nach innen. In Sachsen war die allgemeine Unzufriedenheit am stärksten, Umweltverschmutzung und Städteverfall waren hier besonders zu spüren, der Zorn darüber äußerte sich hier zuerst im öffentlichen Protest. Das Kapitel über die Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober verursacht Gänsehaut. Die Vorbereitungen für eine militärische Niederschlagung waren weit gediehen. In dieser dramatischen Situation forderte der Dirigent Kurt Masur in einem Telefonat die SED-Bezirksleitung auf, „gemeinsam darüber nachzudenken, was man tun kann, um zu verhindern, daß es Tote gibt“. In seinem Privathaus formulierte er mit drei SED-Funktionären, einem Kabarettisten und einem Theologen den entscheidenden Aufruf, der die Situation entspannte. Entspannung bedeutete: Die SED wich zurück. Und ein Kulturbürger bewährte sich als Citoyen. Falls der Begriff „Neue Bürgerlichkeit“ einen Sinn hat, dann in seinem Fall!

Die stille Kapitulation des Regimes, das über sämtliche Machtmittel verfügte, gibt dennoch Rätsel auf. Anhand zahlreicher Details stellt Richter dar, daß dem politischen ein moralischer Zusammenbruch vorausging. Innerhalb der Führungsgremien – und auf vertikaler Ebene auch zwischen ihnen – wurden die Differenzen darüber, wie der Entwicklung zu begegnen war, täglich größer. Honecker, ein Klassenkämpfer aus den Tagen von Weimar, war bereit, Lenins Frage „Wer wen?“ bis zur „chinesischen Lösung“ durchzubuchstabieren, der 25 Jahre jüngere Egon Krenz hingegen nicht. In der Leipziger Parteiführung, die von der Aussicht auf ein Blutbad generell wenig begeistert war, gab es gleichfalls Meinungsverschiedenheiten zwischen Jüngeren und Älteren. Entscheidend war, daß die Falken um Honecker keine glaubhafte politische Perspektive mehr verkörperten. Ohne äußere Bündnispartner, ohne ökonomische und politische Konzepte standen sie für nichts anderes als für den eigenen Machtanspruch. Das war zuwenig, um die Partei- und Staatsorgane und insbesondere die jüngeren Funktionäre weiter zur Loyalität zu verpflichten.

Viel Raum nehmen die Entwicklung und Vertreter der Bürgerrechtsbewegung ein. Ihre Tapferkeit verdient Respekt, doch klar wird auch, daß echte politische Köpfe, Analytiker, Vordenker und Pragmatiker der Macht seltene Ausnahme waren. Zur realistischen Einschätzung der politischen Großwetterlage, der historischen und deutschlandpolitischen Voraussetzungen war kaum einer in der Lage. Die Möglichkeit des Mauerfalls sah niemand voraus, so daß die Oppositionsgruppen – die bekannteste war das Neue Forum – nach dem 9. November wie gelähmt wirkten. Auffällig ist, daß die Opposition in Sachsen viel schneller auf die deutsche Einheit setzte als die in Berlin.

Die vagabundierenden politischen Energien entluden sich in einer anarchischen Gründungswelle von Parteien und Gruppierungen. Es blieben Schattenspiele. Als stabil erwiesen sich nur die Strukturen der SED und der Blockparteien, die als Linkspartei überlebten oder von der CDU und FDP absorbiert wurden. Gerecht war das nicht, aber folgerichtig. Ende Dezember versuchte die SED, mit einer Kampagne „gegen Rechts“ und für die Einführung eines Verfassungsschutzes in die Offensive zu kommen. Das Neue Deutschland schrieb, „die von rechts drohende Gefahr“ sei „der wichtigste Integrationsfaktor auf der Linken“. Ironie der Geschichte: Ganz Deutschland steht demnach heute links.

Der Umfang und die unglaubliche Menge an Details machen die Lektüre sperrig. Manchmal schlägt die CDU-Nähe des Autors durch. Der Wert des Buches liegt vor allem in seinem lexikalischen Charakter. Wer sich mit der späten DDR-Geschichte und der deutschen Frage in irgendeiner Weise professionell beschäftigt, sollte es in Griffweite haben.

Michael Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009, 2 Bände, 1.612 Seiten, Abbildungen, 59,90 Euro

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