© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/09 02. Oktober 2009

Ein Todesfall als Menetekel für Europa
Am 3. Oktober 1929 starb der Reichskanzler und Außenminister Gustav Stresemann
Georg K. Schmelzle

Mit 51 Jahren nur starb Gustav Stresemann, Reichskanzler der ersten Großen Koalition (SPD, DDP, DVP und Zentrum) vom August bis November 1923 und dann Außenminister bis zu seinem Tode am 3. Oktober 1929, schwer krank an einem Schlaganfall und Nierenleiden.

Er übernahm die schwere Verantwortung als Reichskanzler, als der „passive Widerstand“ gegen die Ruhrbesetzung abgebrochen werden mußte und die Reichsmark in einer Inflation unterging. Er bemühte sich den damaligen Gebietsstand von Deutschland zu retten, indem er die Reparationszahlungen wieder in Gang setzte. Er versuchte sie mit Anleihen aus den USA zu erwirtschaften und wandelte sie so in Kreditschulden um, an denen wir heute noch zahlen.

Er brachte den Dawes-Plan durch das Parlament, mit dem ein amerikanischer Bankexperte die Reparationen aus Deutschland ermöglichen wollte, die zur Tilgung der US-Kriegskredite von Frankreich und Großbritannien gebraucht wurden. Für dieses Finanzkunststück zugunsten der Wall Street, „die deutsche Kuh lebensfähig für unbegrenzte Zahlungen zu erhalten“, wurde er 1926 (gemeinsam mit dem französischen Außenminister Aristide Briand) mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Schon 1924 mußte man aber den Young-Plan entwickeln, weil die exorbitanten Zahlungen nicht zu erwirtschaften waren. Als der dann 1930 nach langem Kampf im Reichstag in Kraft trat, hat er nur ein Jahr funktioniert und endete im Hoover-Moratorium. Stresemann versuchte ab 1924, eine Räumung des Ruhrgebiets sofort, die des Rheinlands bis 1927 und eine Begrenzung der Reparationen zu erreichen.

Briand wollte ihm entgegenkommen, wurde aber vom französischen Ministerpräsidenten und Versailles-Hardliner Raymond Poincaré behindert. Stresemann bemühte sich um die Aufnahme in den Genfer Völkerbund, um den deutschen Minderheiten in Ostmitteleuropa zu ihren Autonomierechten zu verhelfen und den Völkerbund aus seiner deutschfeindlichen Haltung zu lösen. Er schloß den Locarnopakt mit Frankreich, der die französische Ostgrenze und die Westgrenze Deutschlands garantierte. Er hoffte auf eine vorzeitige Rückgabe des Saarlands und eine Revision des „Korridors“ von Danzig, Memel und Oberschlesien. Die französischen und britischen Unterhändler waren aber nur an der Sicherung der Reparationen interessiert, stärkten den Polen und Tschechen durch Militärabkommen den Rücken und zögerten die Räumung von Ruhr und Rheinland bis 1930 hinaus. Stresemann hat das nicht mehr erlebt, seine Verdienste daran wurden später jedoch nicht mehr erwähnt. Die französischen Politiker gaben ihm kurzsichtig keinen spürbaren Erfolg, der seine politische Stellung in Deutschland gestärkt hätte. Eine Aussöhnung war durch Finassieren verpaßt.

Spätere Biographen Stresemanns heben hervor, er sei durch den Protest der Rechtsparteien gegen den Locarnopakt und den Young-Plan in den Tod getrieben worden. Dieser Behauptung mag der Bericht eines englischen Journalisten widersprechen, der Stresemann einen Monat vor seinem Tode in seinen Amtssitz  besuchte. Sein Sohn und Vertrauter, Wolfgang Stresemann, berichtet darüber: „Statt Einzelheiten zwei Äußerungen meines Vaters. In einem Interview mit einem bekannten britischen Journalisten sagte er beim Anblick einer durch die Wilhelmstraße marschierenden SA-Truppe: ‘Ich habe ehrlich auf Frieden und Versöhnung (...) hingearbeitet, eine deutsch-französische-englische Verständigung gefördert, achtzig Prozent der deutschen Bevölkerung für meine Politik gewonnen. Hätte ich nach Locarno ein einziges Zugeständnis erhalten, so würde ich mein Volk überzeugt haben. (...) Nun haben wir die Jugend Deutschlands, die wir für den Frieden und für das neue Europa hätten gewinnen können, verloren.’“

Ein Brief an den großen Mentor und Senior der Deutschen Volkspartei (DVP), Wilhelm Kahl, verrät ähnliche Resignation: „Wir sind keine Partei der Weltanschauung mehr, (...) werden mehr und mehr zu einer reinen Industriepartei, ein für mich unerträglicher Gedanke. (...) Die Partei auf dem Wege nach rechts empfindet mich mehr und mehr als Belastung.“ Schließlich schreibt er von der Notwendigkeit der Trennung. „Bis zur Lösung der Reparations- und Räumungsfrage will ich im Amt bleiben, auch bis zum letzten Auskämpfen der Minoritätsfrage“, sonst komme er sich vor wie ein Deserteur, aber dann wolle er demissionieren. Am Schluß: „Mir selbst wird ein Ausspannen von dem ganzen politischen Leben sehr wohltun. (...) Wenn ich noch einmal in den Vollbesitz meiner gesundheitlichen Kräfte kommen könnte, wenn sich die alte Liebe für die Politik noch einmal regen sollte, dann ist es mir möglich, auch ohne Mandat und Parteivorsitz die geistige und politische Entwicklung Deutschlands zu beeinflussen.“ Viele hatten schon an die Position des Reichpräsidenten für ihn gedacht, die 1932 frei wurde.

Mit Stresemann verlor Deutschland einen Vernunftdemokraten und Europäer, der seine nationale Haltung als National-Liberaler aus dem Ersten Weltkrieg überwunden hatte und sich als Schwerkranker in die Pflicht nahm, um Deutschland in die „Vision Europa“ einzubringen. Einzig die Uneinsichtigkeit und Raffgier der ehemaligen Kriegsgegner gab ihm keine Chance. Vor allem war das bei der Haager Konferenz im August 1929 zu spüren, bei der er, gesundheitlich schon schwer gezeichnet, die Streitereien der britischen und französischen Delegierten um die weitere Erhöhung von Reparationszahlungen nicht mehr ertragen konnte. Ein Jahr nach seinem Tod, durch die Weltwirtschaftskrise beschleunigt, hatten auch in Deutschland die Nationalsozialisten die Oberhand gewonnen.

Foto: Gustav Stresemann (1878–1929): „Hätte ich nach Locarno ein einziges Zugeständnis erhalten, so würde ich mein Volk überzeugt haben“

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