© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/09 02. Oktober 2009

Zum Stand der Deutschen Einheit
Die unversöhnte Republik
von Michael Paulwitz

Leben wir nun im „freiesten Staat, der je auf deutschem Boden bestanden hat“, oder befinden wir uns in einer neuen „Groß-DDR“? Knapp zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer und neunzehn Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands fallen die Antworten durchaus zwiespältig aus. Die deutsche Einheit ist Realität, seit fast zwei Jahrzehnten; doch die deutsche Demokratie steckt in einer Legitimitätskrise. Und von einer gemeinsamen Identität als wiederzusammengewachsene Nation sind die Deutschen noch immer weit entfernt.

Mit einer vermeintlichen „Mauer in den Köpfen“, die in den neunziger Jahren die deutschen Selbstbespiegelungsdiskurse beherrschte, hat das recht wenig zu tun. Kaum zufällig ist der Wettbewerb für ein nationales Einheitsdenkmal so kläglich gescheitert. Die Deutschen sind mit sich selbst noch immer nicht im reinen. Wäre es anders, müßte der Tag der deutschen Einheit als Nationalfeiertag stärkere Emotionen auslösen und unbefangener, stolzer, freudiger begangen werden, als dies mit den üblichen gähnend langweiligen Festreden-Pflichtübungen auch diesmal wieder geschehen wird.

Der Tag selbst freilich sperrt sich gegen eine Hochstimmung, die das ganze Volk einen könnte. Es ist ein Bürokraten-Feiertag, der an ein Ereignis erinnert, an dem nicht das Volk, sondern die führenden Anzugträger der beiden Teilstaatswesen im Mittelpunkt standen. Die Unterzeichnung des mühselig ausgehandelten Paragraphenwerks, des Einigungsvertrags, in dem der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland auf den 3. Oktober festgelegt wurde, war ein wichtiges Ereignis, aber keines, das die Massen mitreißt.

Der Tag der Deutschen Einheit, der im Westen Deutschlands bis zur Wiedervereinigung galt, war von anderer emotionaler Qualität. Der 17. Juni erinnerte an den demokratischen Volksaufstand von 1953 für Einheit und Freiheit der Nation, trotz des tragischen Scheiterns eine Sternstunde der deutschen Geschichte. Im geteilten Deutschland war der Jahrestag des blutig niedergeschlagenen Aufstands aus gutem Grund ein nationaler Gedenktag, kein Nationalfeiertag.

Für das wiedervereinigte Deutschland hätte ein anderer Tag erste Wahl als Nationalfeiertag sein müssen: der 9. November. Daß er es nicht wurde, lag natürlich an der tiefsitzenden Furcht, die negativen Konnotationen dieses schillernden Datums in den Hintergrund treten zu lassen – den Hitlerputsch von 1923 und die 15 Jahre später vom NS-Regime angeordneten und organisierten antijüdischen Übergriffe. Paradoxerweise überließ man damit die Deutung dieses Datums den Gespenstern der Vergangenheit. Immerhin war der 9. November 1918 ja auch der Tag der Ausrufung der ersten deutschen Republik, die durch die nationalsozialistischen Taten von 1923 und 1938 geschichtspolitisch ausgelöscht werden sollte.

Der 17. Juni 1953 und der 9. November 1989 haben noch eine andere Gemeinsamkeit: An beiden Tagen hat das deutsche Volk als solches gehandelt, ohne seine jeweilige Regierung zu fragen. Die Degradierung dieser beiden Wendemarken der deutschen Geschichte im Gedenkkalender der Bundesrepublik Deutschland läßt sich auch als Ausdruck des tiefsitzenden Mißtrauens der politischen Klasse gegenüber dem eigenen Volk lesen.

Dieses Mißtrauen stand bereits an der Wiege des Grundgesetzes. Durch seinen Text zieht sich wie ein roter Faden das „Nie wieder“, das Bestreben, Sicherungen und Vorkehrungen gegen die neuerliche Machtergreifung eines volksverführenden Diktators einzubauen. Dennoch steht am Ende dieses Grundgesetzes von 1949 der Artikel 146, der es als Provisorium kennzeichnet, das seine Gültigkeit an dem Tag verliert, an dem eine vom deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossene Verfassung in Kraft tritt.

Als die Stunde dafür gekommen war, wurde der Auftrag, eine Verfassung auszuarbeiten, nicht verwirklicht. Die Wiedervereinigung fand nicht so statt, wie das Grundgesetz selbst sie gewollt hat. Carlo Schmid, der sozialdemokratische Staatsrechtler, hat dies voraussehend schon am 6. Mai 1949 im Parlamentarischen Rat klar ausgesprochen: „Auch der Beitritt aller deutschen Gebiete kann dieses Grundgesetz nicht zu einer gesamtdeutschen Verfassung machen. Die neue, die echte Verfassung unseres Volkes wird also nicht im Wege der Abänderung dieses Grundgesetzes geschaffen werden, sie wird ‘originär’ entstehen, und nichts in diesem Grundgesetz wird die Freiheit des Gestaltungswillens unseres Volkes beschränken, wenn es sich an diese Verfassung machen wird.“

Eine verfassunggebende Nationalversammlung, die dritte nach 1848 und 1919, haben die Deutschen bis heute noch nicht gewählt. Die dafür angeführten Gründe variieren, doch sie haben einen gemeinsamen Nenner: das untergründige Mißtrauen der Politiker gegenüber dem eigenen Volk; die – nicht einmal unbegründete – Sorge, eine neue Verfassung könnte ein mit allerlei Wünschbarkeiten der unterschiedlichsten Interessengruppen überladenes Monstrum werden.

Die Folgen des versäumten Neuanfangs sind fatal. Die deutsche Republik hat die Negativdefinitionen, die sie an die nationalsozialistische Geschichtskatastrophe ketten, nicht abstreifen können. Sie hat die Gelegenheit verpaßt, sich eine geschichtspolitische Erzählung zu geben, die auf den guten Traditionen der neueren deutschen Vergangenheit aufbaut und eine schwarzrotgoldene Linie zieht von der Einheits- und Freiheitsbewegung von 1815, dem Hambacher Fest 1832 und der demokratischen Revolution von 1848 über die Republikgründung von 1919 und die Widerstandsbewegung des 20. Juli 1944 bis zum Volksaufstand von 1953 und zur friedlichen Revolution von 1989.

Die Berliner Republik hat weder sich selbst noch das Volk mit der deutschen Geschichte versöhnen können. Sie leidet an ihrer Geschichtslosigkeit, die mit den finsteren Jahren des „Dritten Reiches“ und sicherheitshalber auch mit allem davor am liebsten nichts mehr zu tun haben möchte. Es ist ein seltsamer Staat, der am 23. Mai die „Gründung Deutschlands vor 60 Jahren“ feiert, als hätte es weder Heinrich I. noch Otto den Großen, noch Luther, den Alten Fritz oder Bismarck gegeben; dessen oberster Soldat die traditionsreiche preußisch-deutsche Militärgeschichte mit dem Hinweis entsorgt, die Bundeswehr sei ja schon älter als die Wehrmacht und stehe schon länger im Balkaneinsatz, als Erster und Zweiter Weltkrieg zusammen gedauert hätten.

Trotz aller dröhnenden Selbstgefälligkeit ist die Bundesrepublik Deutschland ein Staat, der weder dem eigenen Volk noch sich selbst traut. Nicht von ungefähr tritt gerade Deutschland eifriger als alle anderen Mitgliedstaaten Souveränitätsrechte an die EU ab und läßt sich von deren demokratisch unkontrollierbaren Strukturen in einem Ausmaß dirigieren, daß selbst ein ehemaliger Bundespräsident die bange Frage stellt, ob wir überhaupt noch in einer Demokratie leben.

Die Frage beschäftigt Roman Herzog längst nicht alleine. Von einer tatenlosen „Status-quo-Diktatur“ spricht der Buchautor, Staatsreformer und Initiator der „Gruppe 48“, Reginald Grünenberg: von einem Land raffiniert verwobener Interessen, in dem Wahlen unabhängig vom Ausgang faktisch nichts mehr verändern, weil alle etablierten politischen Kräfte sich einig sind, sich einem Systemwandel zu widersetzen.

Grünenbergs Gruppe ist nur eines von vielen Symptomen des Unbehagens am „rasenden Stillstand“ einer „Expertendemokratie“, die am Ende nur noch von ihrer „Inkompetenz-Kompensations-Kompetenz“ (Odo Marquard) am Laufen gehalten wird und mit der dialektischen Abfolge von Reförmchen und Schadensbegrenzung das Vertrauen der Bürger in ihr Gemeinwesen untergräbt.

Jetzt rächt sich, daß nach 1989 die alten Eliten einfach weiterwursteln durften – und zwar diejenigen beider Teile des wiedervereinigten Vaterlandes. Die friedliche Revolution gegen den Kommunismus blieb unvollendet. Die Alt-Bundesrepublik steuerte zur Berliner Republik den Staatsrahmen und das Parteiensystem bei, die aufgelöste DDR machte, daß beides sozialistischer wurde. Die kommunistische Diktatur wurde nicht zerschlagen, sondern inkorporiert: Die DDR-Staatspartei gehört zum etablierten Parteiensystem, die alten Westparteien verleibten sich neben einigen Bürgerrechtlern mit großem Eifer auch die Apparate der ehemaligen Blockparteien ein. Eine antikommunistische Vergangenheitsbewältigung blieb aus.

Die Folgen für den geistigen Zustand des Landes sind verheerend. Die stalinistische Doktrin des „Antifaschismus“ ist für die etablierten Parteien heute faktisch Staatsraison und hat den „antitotalitären Konsens“ der alten Bundesrepublik abgelöst, der rechte und linke Extremismen gleichermaßen ächtete. Es herrscht ein Klima der politischen Korrektheit, das ein Sammelsurium politischer Modetorheiten, vom „Gender Mainstreaming“ und Homosexualismus über den „Kampf gegen Rechts“ und die geschichtspolitische Aneignung der Befreiungsrhetorik der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs bis zu Multikulturalismus und Randgruppenkult, mit quasi-religiösen Weihen ausstattet.

Ein gelernter DDR-Bürger darf sich heute fraglos freier fühlen als in den letzten Jahren des Honecker-Regimes. Wer hingegen im Westdeutschland der siebziger oder achtziger Jahre sozialisiert wurde, wird als Ergebnis dieser Entwicklung einen beunruhigenden Verlust an Pressefreiheit und Meinungsvielfalt, an Diskurs- und Entfaltungsmöglichkeiten verspüren.

Den Mangel und die geistige Enge empfinden keineswegs nur die Älteren, sondern auch viele junge Erwachsene, die bewußt kein anderes Deutschland als das wiedervereinigte erlebt haben. Man kann in die entlegensten Winkel Europas reisen, ohne einen Paß vorzeigen oder Geld wechseln zu müssen, aber man kann in bestimmten Vierteln abends nicht mehr unbeschwert ausgehen oder öffentliche Verkehrsmittel benutzen, ohne die Begegnung mit interethnischer oder sozial verwahrloster Gewalt zu riskieren. Geschweige denn, daß man sein Auto in der Hauptstadt unbesorgt auf der Straße abstellen kann, ohne zu befürchten, daß es von der „Antifa“-SA abgefackelt wird, die unter den ohnmächtigen Augen der Polizei ein Reich der Gesetzlosigkeit schafft, dem Staat sein Gewaltmonopol streitig macht und ihn in den Augen seiner Bürger delegitimiert.

Deutschland im Jahre zwanzig nach dem Fall der Mauer zeigt sich seinen Bürgern und Einwohnern als hyperaktiver Gouvernantenstaat, der sich in immer mehr persönliche und private Lebensbereiche einmischt, gleichzeitig aber eine wachsende Zahl von drängenden Problemen nicht mehr zu lösen, sondern nur noch kapitulierend schönzureden oder mit Denk- und Sprechverboten zu belegen vermag.

Deutschland steckt in der Krise – und keineswegs nur in der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise, die seit letztem Herbst alles zu überschatten scheint. Die Krise des wiedervereinigten Deutschlands sitzt tiefer, ihre Wurzeln reichen weiter zurück. Es ist eine Sinn- und Legitimitätskrise: Die deutsche Republik hat die Einheit, aber noch immer nicht die Einigkeit, während Recht und Freiheit zunehmend in Frage gestellt werden. Krisenzeiten sind Entscheidungszeiten. Deutschland muß sich entscheiden, auf welchen Grundlagen es bestehen will, welchen Platz und welche Gestalt es in der Völker- und Staatenwelt einnehmen will. Die Entscheidung kann den Deutschen niemand abnehmen, auch nicht ihre Politiker. Es wird höchste Zeit für die Bürger, sich ihren Anteil an Mitsprache und Verfügungsgewalt über ihr Gemeinwesen zurückzuholen.

 

Michael Paulwitz, Jahrgang 1965, studierte Geschichte, Altertumswissenschaften, lateinische und slawische Philologie in München und Oxford.  Seit 2001 ist er als selbständiger Journalist, Lektor und Referent tätig.

Foto: Mißtrauen des Staates gegenüber seinen Bürgern: Als die Stunde gekommen war, wurde der Auftrag, eine Verfassung auszuarbeiten, nicht verwirklicht.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen