© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/09 09. Oktober 2009

Mit Nietzsche als Bergführer
Hoch über der Stadt atmet es sich freier: So schnell entkommt man der Enge des Tals
Florian Lux

Wohin gehört der Mensch? In die Stadt und nicht auf den Berg. Das Hochgebirge ist das denkbar Gegensätzliche zur Stadt, der großen Sammelstelle, in die es den Menschen zieht, weil er unter seinesgleichen sein will, gerne in Millionenstärke. Wer diesem anthropologischen Zug nicht vollends erlegen ist, sehnt sich vielleicht nach dem Unwirtlichen, dem rauheren Klima, dem Stück Restnatur am Rande der urbanisierten Welt, das er auch in sich selbst noch zu finden hofft. Denn dort herrscht eine andere, eine beinahe vergessene Freiheit.

Es ist die Freiheit, die in dem Bild erhabener, urgewaltiger Landschaften wie eine stille Reserve verborgen liegt. Man will dieser Natur seinen Dank aussprechen – wohlwissend, daß sie bescheiden lächeln, vielleicht lässig abwinken würde in ihrer Überlegenheit, gleich einem großen trägen und sehr alten Tier, das nur noch weise nickt, wenn man sich ihm in Demut zu nähern versucht. Im Hochgebirge begegnet die Ordnung der Dinge mit einer solchen Selbstverständlichkeit, als habe sie es gar nicht nötig, sich dem Menschen in Erinnerung zu rufen – hat sie auch nicht. Sie ist einfach da. Wer „mit ihr“ sein will, kann es tun; wer nicht, auch gut.

Gewiß, da sind auch noch die anderen: diejenigen, welche die Stadt ins Gebirge tragen müssen, weil sie nicht anders können. Sie kommen in Bussen angereist, schwärmen als bunte Insekten aus und dringen, mit ihren Mountainbikes oder zu Fuß, vom Sportartikelhersteller komplett eingekleidet, bis in den letzten Winkel vor, wo sie finden, was sie gar nicht suchen, und es damit zunichte machen – Ruhe.

Dennoch: In den Hochebenen, „6.000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit“, wie Nietzsche das Empfinden der Stille im Oberengadin treffend beschrieb, scheint der Abstand zur Stadt und zu ihren aus Enge und Dunst geborenen Denkgewohnheiten groß genug zu sein, um einmal, in freisinniger Schweizer Luft, tief durchzuatmen und dabei manche Tatsache des Tals unvoreingenommen zu hinterfragen.

Man schaffe sich dazu die nötigen Bedingungen, etwa: drei Wochen lang Totalverzicht auf sämtliche Medien – keine Zeitungen, keinen Computer, kein Telefon, ja nicht einmal Musik. Nur Berge und Bücher. Kein Gebrabbel. Keine moralischen Belehrungen. Kein Aufmerksamkeitsgeschrei. Statt dessen Ziegenkäse von der Alm. Die natürliche Heiterkeit der Menschen, die immer hier sind. Ihr Gleichmut in manchen Dingen, ohne daß sich Gleichgültigkeit einschliche. Wetterverfärbte Haut. Wechsel der Eitelkeiten. Höhenluft, die den Blick verändert, ihn schärft. Das ist keine Verklärung. Wer vor dem eigenen Zivilisationsäffchen noch nicht gänzlich kapituliert hat, denkt und fühlt in den Bergen tatsächlich anders als im Tal. Die kleinen Verwandlungen ... Wie weit man sich doch in kürzester Zeit von dem entfernen kann, was gemeinhin als das nächste gilt!

Später wieder zurück im Getriebe. Man schaltet das Radio an oder den Fernseher. Fast hätte man vergessen, wer hier das Sagen hat. Aber das vertraute, immer gleiche Programm mit seinen immer gleichen Themen sorgt für ein schnelles Erinnern. Richtig, deine Freiheit war gestern, hier herrscht der alte Gleichklang, zeigen dir die freundlichen Vortänzer, wie du dich zu bewegen hast. Der Kontrast könnte kaum größer sein, den die einsetzende Gewöhnung auch bald wieder verwischt. Auf den ersten, plötzlichen Eindruck bei der Ankunft in der Großstadt kommt es an, bevor du wieder einsickerst in ihr. Wenige Stunden später hat sich der eigene Anpassungsmechanismus bereits selbst aktiviert und das Gehirn beginnt mit der Neueinstellung ...

Doch es bleibt die Frage: Was ist wirklich wichtig? Vielleicht das aufgekratzte Getue um einen längst zur rituellen Farce verkommenen Wahlvorgang, an dessen einstigen Sinn sich niemand mehr zu erinnern scheint? „Ach“, möchte man mit der gleichen Überlegenheit abwinken wie das große, träge und sehr alte Tier, das man als seinen eigentlichen Lehrer gerade verlassen hat, „macht ihr nur ...“ – Welche Kindergartengruppe hat denn diesmal die schönste Sonne gemalt? Na? Die blaue Gruppe oder die rote, die gelbe oder die grüne? Ätsch bätsch, ruft die blaue Gruppe der roten herüber, unsere Sonne ist viel toller als eure ... Und die Kinder der roten Gruppe blicken auf ihre Sonne und stellen beleidigt fest, daß sie wohl tatsächlich die schlechteste Sonne gemalt haben seit Gründung des Kindergartens ... Manno!

Aber am Ende freuen sie sich dann doch alle gemeinsam, denn der Kindergarten ist der gleiche geblieben, es gibt für alle wieder täglich das gleiche gute reichhaltige Kindergartenessen, und kein Kind von draußen hat es geschafft, in die bunt bemalten Räume einzudringen, um ein paar neue Spielregeln vorzuschlagen. Also nehmen sich die Kinder der roten Gruppe trotzig vor: Beim nächsten Mal wollen wir wieder die schönere Sonne gemalt haben ...

Das sozialdemokratische Zeitalter hat dann das Stadium der Vollendung erreicht, wenn es auf seine Meister verzichten kann. Alle haben inzwischen gelernt, jeder ist mehr oder weniger Statist der laufenden Inszenierung, andere Stücke werden nicht mehr aufgeführt, weil alle, die mitspielen wollen, von der unanzweifelbaren Qualität des (eigenen) Stücks überzeugt sein müssen. Was aber versäumt derjenige, der diesem Kollektivtheater nur noch wenig Aufmerksamkeit schenkt? Von hohen Bergen aus, mit viel Abstand, wirkt das Treiben der postdemokratischen Akteure geradezu peinlich ... und man weiß nicht recht, wofür man sich nun eigentlich mehr schämt: für das abgespulte, so leicht durchschaubare Verhalten der dressierten Mitspieler, oder für die eigene Arroganz, mit der man sich davon abwendet?

Gewisse Einsichten verderben die gute Laune am Spiel – Einsichten, die allen längst bekannt sind, die niemand ernsthaft leugnen und deren Konsequenz dennoch nicht gelebt werden kann: „Der Parlamentarismus, das heißt die öffentliche Erlaubnis, zwischen fünf politischen Grundmeinungen wählen zu dürfen, schmeichelt sich bei jenen vielen ein, welche gern selbständig und individuell scheinen und für ihre Meinung kämpfen möchten. Zuletzt aber ist es gleichgültig, ob der Herde eine Meinung befohlen oder fünf Meinungen gestattet sind. – Wer von den fünf öffentlichen Meinungen abweicht und beiseite tritt, hat immer die ganze Herde gegen sich.“

Ja, das ist der Nietzsche aus dem Hochgebirge – der zwar nur um die Seen herumlief, aber den das Klima im Oberengadin doch hinreichend erfrischte, um sich solche Wahrheiten nicht zu verbieten.

Also: Anstatt selbstquälerisch immerzu nach der richtigen Anpassungsform zu suchen, lieber einen Dreitausender besteigen! Eine ordentliche Tagestour bringt gewiß mehr Wahrheiten hervor als ein ganzer Monat Medienspektakel samt anschließender Wahlanalyse. Ist das Eskapismus? Unverantwortlich? Ein egoistisches Sichdavonstehlen? Oder doch nur – notgedrungen – die ehrlichste Antwort auf die große staatstragende Selbstbetrügerei, an der sich jeder beteiligen soll, damit es am Ende wieder „alle“ gewesen sind?

Solange der Schein ganze Institutionen, ja ganze Systeme stützt, die niemandem direkt schaden, hat er seinen Zweck erfüllt. Man muß ihn also weder durch Teilnahme stärken noch bekämpfen. Er hält die Dinge am Laufen, das Spiel geht weiter, ist längst Selbstzweck geworden. Und keiner fährt derzeit wirklich schlecht dabei. Immerhin ist das „Schlimmste“ nicht eingetroffen, der nächste Schub hin zum totalen, neosozialistischen Staat ein wenig gedämpft. Man sagt: Jetzt wird sich aber vieles ändern – nur was? Für manchen reicht schon zum Trost, daß er sich wieder einmal kurzzeitig der schönsten aller Illusionen hingeben darf ... – Derweil werden in den Kindergartengruppen bereits emsig die Wachsstifte sortiert.

Foto: Blick von St. Moritz auf die Oberengadiner Seenlandschaft: Abstand zur Stadt und ihren aus Enge geborenen Denkgewohnheiten

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