© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/09 09. Oktober 2009

Kulturpolitik
Die kulturellen Schutzwälle verstärken
von Rolf Stolz

Es geht das Gerücht um, Deutschland sei noch immer eine Kulturnation. Nun, daß dieses schöne Märchen einmal wahr war, steht außer Zweifel. Von den romanischen und gotischen Domen bis zu den meisten Jugendstilvillen, ja noch bis zu vielen edel-schlichten Verwaltungs- und Industriebauten, die in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entstanden, vom Volks- und Kirchenlied bis zu den Fahrtenliedern der Jugendbewegung, vom Minnesang bis Richard Wagner und Carl Orff wurde das Schöne und Bedeutende zwar in seiner großen Grundgestalt stets von den Einsamen, den Einzelgängern geschaffen, aber in der Ausführung und in der Aufnahme doch getragen von einer breiten Schicht.

Nicht allein die Aristokratie und die für sie arbeitende Spezialisten-Auslese, sondern auch – zahllose Fachwerkhäuser und Alltagsgegenstände auf dem platten Land bezeugen dies – gewöhnliche Handwerker, Bauern und Händler trugen die Kultur. Es gab damals nicht weniger Dummheit und Kulturverweigerung als heute, aber solange diese nicht übergriffen auf die Mehrzahl der Mächtigen, blieben die Dämonen eingesperrt in die finsteren Untergeschosse des Massenalltags.

So sehr sich freie Köpfe immer gewünscht haben, daß alle Menschen von sich aus den Schöpfergeist der Kunst bejahen und lieben – zu allen Zeiten haben die Künstler es bevorzugt, daß durch Hunger, Blut, Schweiß und Tränen hindurch die Pyramiden und die Kathedralen gebaut wurden, statt alle von ihren Lasten zu befreien und das Reich der freien Faulheit, der Herzverfettung und der künstlerischen Impotenz anbrechen zu lassen.

Wenn also früher die Kultur und damit auch die Kunstschaffenden teils begeistert, teils murrend durchgetragen wurden von den großen Massen, so hat die Epoche der Demokratie es unzweifelhaft den Unwilligen erleichtert, sich der Kunst wie der Kultur zu entledigen und zu entziehen. Faulheit und Dummheit werden nicht einfach nur von den Dummen und Faulen als ihr Menschenrecht reklamiert, sondern durchaus weder faule noch dumme Ideologen predigen seit langem den Verzicht auf eine Erziehung der Kinder wie der breiten Volksschichten. „Keiner ist weise oder gut genug, um den Charakter eines Kindes zu formen,“ meinte schon der Gründer der Summerhill-Reformschule, Alexander Neill (1883–1973).

Mit der Verdächtig- und Verächtlichmachung der politischen Führung, mit dem ökonomischen Abdanken des Bildungsbürgertums und dem Aufsteigen bestimmter Emporkömmlinge aus der Kategorie der gerade durch ihre Borniertheit zur Machteroberung prädestinierten Kleinbürger (Adolf Hitler ist hier der Großvater zahlloser Enkel) konnte die Barbarei sich seuchenartig ausbreiten, während immer noch ein Rauchvorhang aus Philharmoniekonzerten und Ausstellungs-„Events“ den gewünschten Eindruck verbreitet, alles sei in bester Ordnung und die Traditionen würden lebendig gehalten.

In dieser Tragikomödie spielen so manche Wohlmeinende mit, aus Feigheit oder Ignoranz oder beidem. Sie preisen in und mit der Bild die „Volksbibel“ an oder posieren päpstlich vor den Kameras von Privatsendern wie RTL, denen – das sei niemals vergessen – ausgerechnet von den „Christenparteien“ CDU/CSU und den für alles allzeit bereitstehenden Liberalen ermöglicht wurde, mit Dummschwätzern und mit profitabler Pornographie das Volk zu verdummen und seelisch zu vergiften (für die Belege schlage man nach in dem Sachbuch „Seichtgebiete. Warum wir hemmungslos verblöden“ des Stern-Journalisten Michael Jürgs).

Die Kulturpolitik gehört umorientiert. Denn Kunst und Kultur sind keine Zusatzspezereien für hohe Festtage, sondern elementare Lebens-Mittel für das Überleben unserer Nation, unseres Volkes und aller Überlieferungen außerhalb des Gen-Bestands.

Würden Abiturarbeiten danach benotet, wer die schönste Handschrift hat, so gäbe es einen Aufschrei. Auf kulturellem Gebiet geschieht etwas Vergleichbares: Nicht wer große Kunst schafft, setzt sich durch, sondern der, der zu bestimmten Klüngel-Seilschaften rechnet oder besonders geschickt ist im Anbohren von Protektoren und Fördertöpfen. Wenn große Werke der klassischen deutschen Literatur nicht einmal gedruckt vorliegen (als Beispiel herausgegriffen das große Verswerk „Die Hölle“ des frühexpressionistischen Dichters Otto zur Linde); wenn wichtige Gegenwartsautoren teils für die Schublade, teils für Pseudoverlage schreiben müssen, die dem Autor statt dem Buchkäufer die Druck- und Verlagskosten auferlegen; wenn Bücher großer Verlage ausschließlich aus betriebswirtschaftlichen Gründen, nämlich weil die Umsatzzahlen nicht hoch genug liegen, schon im nächsten Bücherherbst verramscht werden, statt über die „Backlist“ des Verlags langfristig lieferbar zu sein – dann ist etwas faul im Staate „D“.

Für Kunst und Kultur wird ohnehin zuwenig ausgegeben, und das Wenige kommt vielfach den Falschen zugute. Darin zeigt sich nicht immer simple Gedankenlosigkeit, sondern oft bewußte Mißachtung. Man muß also zunächst an den Einstellungen der Mächtigen wie an den Machtverhältnissen Grundlegendes ändern und zugleich beginnen, die Kulturpolitik umzuorientieren und umzuwälzen. Denn Kunst und Kultur sind keine Zusatzspezereien für hohe Festtage, sondern elementare Lebens-Mittel für das Überleben unserer Nation, unseres Volkes und aller Überlieferungen außerhalb des Gen-Bestands.

Angesichts einer Globalisierung, die immer mehr Einfluß von der Basis weg verlagert auf ferne Zentralstrukturen wie den Brüsseler Bürokratie-Moloch und auf monopolistische Kapitalsammelstellen; angesichts eines anhaltenden Drucks von Einwanderern, die vielfach ein prinzipiell anderes und beileibe nicht besseres Eurabistan und Islamo-Deutschland wollen, wird es immer wichtiger, die kulturellen Schutzwälle zu verstärken und zu bemannen, den „ererbten Raum“ (Martin Heidegger) verbissen zu verteidigen – nicht zuletzt gegen die amerikanische Massen(un)kultur, die Peter Sloterdijk in einer Rede am 19. Februar 2005 zu Recht deutete als ein „Religionsphänomen mit dem Charakter einer inneren und äußeren Mission, indem die Seelen fremder Menschen von Kindheit an besetzt und mit quasimissionarischen Methoden gedrillt werden, auf die Stimme des neuen Herrn zu hören“.

Mit der Kultur wird Geld verdient, gerade auch in Deutschland: Von 30 Milliarden Euro Einnahmen jährlich ist die Rede, wobei als feste Größe die laut Statistischem Bundesamt rund acht Milliarden öffentlicher Kulturausgaben einfließen, die allerdings – mit eher sinkendem Anteil – weniger als 0,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprechen. Viel Geld, aber wer bekommt es? Einige Großverleger, Film- und Popkonzert-Moguln, einige wenige Großverdiener unter den Solisten, aber zugleich fließen, wenn man es aufsummiert, Unsummen an all die Manager, Impresarios, Kulturfunktionäre, Aufbereiter. Aufgrund vergangener Gewerkschaftserfolge erhalten die Hilfskräfte im staatlich-städtischen Kulturbetrieb – vom Personalchef und Oberbuchhalter bis hinab zum Bühnenarbeiter – deutlich mehr als viele ihrer kreativen Kollegen, die Schauspieler, Sänger und so weiter sind, und erst recht mehr als die Künstler in freien Kooperativen und privaten Unternehmungen. Hier ist eine Revolution überfällig: bei Einkommen und Einstufung eine gewisse begrenzte und schrittweise Herabstufung der selbst bei äußerstem Fleiß Unproduktiven – und eine parallele Höherstufung der Schöpferischen, ob sie nun originäre Künstler sind oder den Kunstentwurf umsetzende Sänger, Tänzer, Regisseure oder Schauspieler.

Notwendig wäre hier, gründlich durchzuforsten, welche Mittler und Vermittler überhaupt notwendig und hilfreich sind. Ganz generell geht es darum, daß der Kellner sich nicht länger als Koch oder gar als Restaurantbesitzer ausgibt. Er gehört zurechtgestutzt auf seine eigentliche Aufgabe, nämlich Dienstleister und Diener der Künste wie der Künstler zu sein.

Die EU-Kommission betont in einer Studie für die EU-Kulturminister vom November 2006, daß die Kultur – mit steigender Tendenz – immerhin 2,6 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beisteuert. Mit 5,8 Millionen sind in EU-Europa mehr Arbeitnehmer im kulturellen Bereich beschäftigt als in der Gesamtwirtschaft Irlands und Griechenlands zusammengenommen. Der Weltmedienhandel hat sich in den letzten 20 Jahren vervierfacht – ein großer Teil dieses Prozesses wird gespeist von Kulturgütern, die zu profitablen Investitionen geworden sind. Gerade im audiovisuellen Bereich dominieren die USA – hier haben die EU-Länder ein Handelsbilanzdefizit in Höhe von acht Milliarden Dollar. Mehr als die Hälfte, zum Teil zwei Drittel der „Top 20“ in Europa sind Hollywood-Filme. Nur Ignoranten wie der deutsch-russische Kulturtheoretiker Boris Groys, den der Frankfurter Philosoph Martin Seel bissig, aber zutreffend als den „Helge Schneider der Medientheorie“ bezeichnete, können angesichts solcher Realitäten jede Frage nach der Herkunft des Kunstwerks und des Künstlers aus einem bestimmten geographisch-kulturellen Raum als „rassistisch“ diffamieren (siehe Böll. Thema Nr. 2/2005).

Was ist zu tun? Hier ist nicht der Raum für einen detaillierten Maßnahmenkatalog. Daher seien nur beispielhaft zwei der Wunden angesprochen, die am meisten eitern und am dringendsten der Heilung bedürfen: die deutsche Verlagslandschaft und das deutsche Urheberrecht. Noch utopisch, aber dennoch unerläßlich: Durch eine Neufassung der Kartellgesetzgebung müssen die immer größer, unbeweglicher und unfruchtbarer werdenden Konzernverlage unbedingt aufgelöst werden in viele mittelgroße und kleine Verlage. Ausländische Beteiligungen müssen auf unter 24 Prozent begrenzt werden, wie umgekehrt im Sinne der Gegenseitigkeit und Gleichberechtigung auch die deutschen Medienunternehmen im Ausland keine höheren Anteile halten und keinen bestimmenden Einfluß ausüben sollten.

Das Urheberrecht muß reformiert werden. Daß die unmittelbaren Erben eines Künstlers 20 Jahre lang Tantiemen erhalten, reicht aus. Die Tantiemen flössen die folgenden 50 Jahre in einen staatlichen Fonds, der allen Künstlern und der Kunsterziehung zugute kommt.

Das Urheberrecht, das immer noch auf das Urheberrechtsgesetz von 1901 zurückgeht, muß dringend geändert werden. Daß die unmittelbaren Erben des Künstlers nach dessen Tod 20 Jahre lang Tantiemen erhalten, muß ausreichen – die Enkel und die Großneffen sollten bitte für sich selbst sorgen, und die Tantiemen flössen die folgenden fünfzig Jahre in einen staatlichen Fonds, der allen Künstlern und der Kunsterziehung zugute kommt. Überfällig ist auch der „Goethe-Pfennig“, also die Erhebung einer Art Sondersteuer auf die Verwertung älterer Kunst, die ebenfalls in den genannten Fonds fließen sollte.

Allerdings wird gegenwärtig mit sogenannten „Reformen“ des Urheberrechts das genaue Gegenteil angepeilt: Der Mehrwert soll für die Verwerter steigen, der ohnehin zu geringe Lohn für die Schöpfer all der schönen Dinge dagegen abgesenkt werden. Zu Recht schrieb die Gewerkschaft ver.di in einer Stellungnahme im November 2006, dem entsprechenden Regierungsentwurf gehe es „gerade nicht um die Belange der Urheber und ausübenden Künstler­Innen (...) sondern um eine Erweiterung der Kalkulationsspielräume bei den Geräteherstellern, um Steigerung des Absatzes von Geräten und um den Zugriff auf geschützte Werke, deren Schöpfer anscheinend nur noch als ‘Problem’ wahrgenommen werden.“ Wen sollte dies wundern bei einer Regierung, die immer nur das Wohl ihrer Großspender und Lobby-Spezis im Blick hat! In dieser Konstellation startet Google – durchaus unterstützt von Teilen des europäischen Establishment  – den Versuch, mit der Vermarktung von Büchern zum Wissens- und Unterhaltungsmonopolisten aufzusteigen, die Autoren mit einem Almosen abzufinden und die Kultur nach privaten Verwertungsinteressen zu modellieren.

Es ist Zeit für einen Kassensturz, eine Zwischenbilanz. Sicher, es gibt weiter Künstler – die aber in dürftigen Zeiten isolierter als jemals zuvor sind –, die als Subversive sehr frei sind: frei von Unterstützung, Zuspruch, von echtem Widerhall. Der Kulturraum ist zu einer inselhaften Oase in der großen flachen Wüste geworden. Die Elite der innengelenkt und eigenständig Lesenden, Sehenden oder Hörenden ist zumindest nicht angewachsen, und ihr Abstand zur auf Unterhaltung und Ablenkung abonnierten Mehrheit hat offenkundig zugenommen, seit alles schlecht Vermarktbare aus dem öffentlichen Leben ausgegrenzt und in enge Randbereiche abgedrängt wird, seit die Leihbibliotheken häufiger Bücher verramschen und durch Computerspiele ersetzen.

Notwendig ist eine schöpferische Umwälzung – keine kulturfeindliche „Kulturrevolution“, die wie in China nach 1966 und im Westen nach 1968 die künstlerischen und moralischen Werte zerstört, sondern eine innergesellschaftliche Erneuerung, die die besten Traditionen einer großen Vergangenheit aufnimmt, das lastende Elend unserer geschäftig-unfruchtbaren Gegenwart aufstört und das Land zu neuer geistiger Blüte und Größe führt.

 

Rolf Stolz ist ständiger Kolumnist der JUNGEN FREIHEIT. Er war Mitbegründer der Grünen und lebt heute als Publizist in Köln.

Foto: Weit mehr als die Hälfte der Kino-Kassenschlager in Europa sind Hollywood-Filme: Angesichts von Globalisierung, Masseneinwanderung und aggressiver Amerikanisierung wird es immer wichtiger, den „ererbten Raum“ verbissen zu verteidigen

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