© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/09 16. Oktober 2009

Deutsche Literatur
Welt ohne Transzendenz
von Thorsten Hinz

 Sechzig Jahre nach Gründung der Bonner Republik behauptet ihre Nachkriegsliteratur eine zählebige Existenz, sind Heinrich Böll, Günter Grass, Walter Jens, Uwe Johnson, Wolfgang Koeppen, Siegfried Lenz, Martin Walser immer noch die alles überragenden Säulenheiligen. Aus der DDR kommt Christa Wolf hinzu. Es geht nicht so sehr um Plazierungen in Bestsellerlisten, sondern um die Atmosphäre im öffentlichen Raum, die von diesen Autoren geprägt wurde und noch immer beherrschend ist. Wer mitreden will, muß sich fortschrittlich, sozial, engagiert, kritisch, demokratisch, antielitär, humanitaristisch geben, dazu antifaschistisch, bußfertig und auf den Nationalsozialismus als das unhintergehbare absolut Böse fixiert.

Mauerfall, Wiedervereinigung und der Zusammenbruch des Realsozialismus haben für einen Paradigmenwechsel nicht ausgereicht – trotz der Zeitspanne, die mittlerweile dem Abschnitt zwischen 1949 und 1969 entspricht. Obwohl neben Pop-, Berlin-, Fräuleinwunder- und Feuchtgebiete-Literatur seit 1989/90 durchaus Interessantes entstanden ist, bewegt die Literatur, sobald es um Grundsätzliches geht, sich auf einem Terrain, das in den fünfziger und sechziger Jahren markiert wurde. Ab und an wird es um harmlose Spielwiesen erweitert.

Vor 20 Jahren schien das Ende dieser Begrenzungen sich von selbst zu verstehen. Die DDR-Literatur, so hieß es im Literaturstreit, sei viel zu eng an die Institutionen des Staates, seiner Ideologien und Fortschrittsutopien gebunden, um deren Zusammenbruch zu überstehen. Am 1. Oktober 1990, zwei Tage vor der Einheitsfeier, erschien in der FAZ ein Grundsatzartikel von Frank Schirrmacher, der auch den „Abschied von der Literatur der Bundesrepublik“ beschwor. Die eingangs genannten Literaten wurden als wichtigste Produzenten des gesellschaftlichen Bewußtseins und politisch-ideologischer Machtfaktor identifiziert. Sie seien die „Repräsentanten und Sprecher“ der Nachkriegsgesellschaft gewesen, hätten sie „mit neuen Biographien und Pässen versehen“. Ihr Kampf gegen die restaurative Übermacht sei dagegen eine Legende, vielmehr habe die „überwältigende Mehrheit der nachwachsenden Generationen nur darauf gewartet, die neue fortschrittliche Identität annehmen zu können“. Dieser Sonderfall, der nur eine einzige Generation betraf, wurde mit der Einheit als erledigt erklärt. In der Zeit sekundierte Ulrich Greiner, daß die Literatur in der Bundesrepublik und in der DDR „von Anfang an unter einer moralischen Überlast gelitten hat“ und einer „Gesinnungsästhetik“ verpflichtet war, die das politisch-moralische Anliegen über das ästhetische Gelingen gestellt habe.

Der Begriff „Gesinnungsästhetik“ stammte von dem Bielefelder Literaturprofessor Karl-Heinz Bohrer, der 1990 in der Zeitschrift Merkur eine Artikelserie zum „Provinzialismus“ der Bonner Republik publiziert hatte, der sich auch in einer mediokeren, von politischen und moralischen Absichten penetrierten Ästhetik niederschlug. Bohrer grauste es bei dem Gedanken, daß die „Kulturpastoren“ der DDR und der BRD sich verbünden könnten: „Es wäre eine unerquickliche Aussicht, wenn dieses Milieu für die nächsten Jahre erneut unser Klima bestimmte, wenn uns seine dumpfe ‘Trauerarbeit’ (...) als emphatisches Projekt angepriesen würde.“ Es ging also – drei Jahre nach dem Historikerstreit – um mehr als um Literatur, nämlich um die Rückeroberung der Freiheit der öffentlichen Rede, um ihre Befreiung aus der Herrschaft des Verdachts und um ein geläutertes nationales Selbstverständnis.

Obwohl seit 1989/90 natürlich Interessantes entstanden ist, bewegt die Literatur, sobald es um Grundsätzliches geht, sich auf einem Terrain, das in den fünfziger und sechziger Jahren markiert wurde. Ab und an wird es um harmlose Spielwiesen erweitert.

Keine der hoffnungsfrohen Annahmen hat sich erfüllt. Das anschaulichste Beispiel bietet Günter Grass, der sowohl als Person und Symbol, als Schriftsteller und Handlungsreisender in Sachen Politik und öffentlicher Moral unbesiegt ist. Sogar die Enthüllung seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS hat ihm nicht geschadet. Der Vorwurf an ihn, die eigene Vergangenheit „verdrängt“ zu haben, lief deswegen ins Leere, weil er in der antifaschistischen Argumentationslogik gefangen blieb, an der Grass schließlich ein Urheberrecht besitzt.

Angesichts solchen moralischen Übergewichts konnte er sein langes Schweigen entweder als Selbstopfer im Dienste der höheren Sache oder zur läßlichen Sünde erklären, die ihn um so menschlicher macht. Da niemand es wagt, das antifaschistische Argumentationsmuster als solches und Grass als seinen Propagandisten offensiv anzugreifen, kann er heute im Ton des Übervaters, der die schwachen Söhne verachtet, weil sie nicht einmal eine richtige Rebellion zustande bringen, Hohn und Spott über den zitierten Schirrmacher-Artikel ausgießen. Ebenfalls am 1. Oktober 1990 notierte er in seinem Tagebuch: „Das Ende der Nachkriegszeit wird (als Wunschvorstellung) behauptet. Der etwa 30jährige Schirrmacher, ein Reich-Ranicki-Eleve, gibt beschwörend den Ton an, als wolle er sich freischwimmen von meiner, der Vätergeneration, bleibt dabei vorsichtig in Ufernähe, denn man weiß nie.“ (Vergleiche Rezension in JF 12/09)

Noch wo verdrängte Themenbereiche literarisch enttabuisiert werden, geschieht das – wie Grass in der „Gustloff“-Novelle „Im Krebsgang“ demonstriert – gemäß den alten Bedingungen. Die Berechtigung, sich des Themas anzunehmen, wird aus der „Trauerarbeit“ abgeleitet, die inzwischen fest genug etabliert ist, um auch deutsche Opfer zu integrieren, statt sie den „Nazis“ zu überlassen. Es vollzieht sich also kein Wechsel des Paradigmas, sondern lediglich seine Ausdifferenzierung. Wie konnten die Bohrers, Greiners, Schirrmachers sich 1990 trotz klarer Einsichten derart über die Zukunft täuschen? Zweierlei: Entweder ging ihre Kritik nicht tief genug, oder sie ließen außer acht, was Marxisten unter dem Begriff „Produktionsverhältnisse“ subsumieren.

Um die geistigen Grundlagen der Nachkriegsliteratur zu erklären, muß man mindestens bis zum Roman „Doktor Faustus“ (1947) von Thomas Mann zurückgehen, der den Ruf eines Jahrhundertbuchs genießt. Er handelt von einem Komponisten, der, um seine Arbeit zu stimulieren, einen Pakt mit dem Teufel eingeht. Das Künstlerdrama um diesen von moralischer, politischer und sozialer Verantwortung abgelösten Geist wird vor dem Hintergrund der nationalen Tragödie Deutschlands erzählt, die mit der Höllenfahrt von 1945 endet. Diese wird aus der Niederlage im Bauernkrieg, aus den erfolglosen Revolutionen, aus Luthertum und Vulgär-Nietzscheanismus, aus der Absage an Humanismus und Fortschritt und einem deutschen Freiheitsbegriff hergeleitet, der sich nur nach außen, nie nach innen wandte. Es ist ein sehr reduziertes Bild der deutschen Kultur und Geschichte. Es ist nichts dagegen zu sagen, daß der Roman solche Deutungsmöglichkeiten einschließt, das Problematische liegt aber darin, daß er jede andere ausschließt.

Nehmen wir die Überlegungen Max Schelers, der während des Ersten Weltkriegs über die „Ursache des Deutschenhasses“ nachsann. Neben scharfer Selbstkritik hielt er fest, daß der Erste Weltkrieg ein Kampf der europäischen Peripherie gegen die eigene Mitte, gegen den „Mittel-, Quell- und Herzpunkt“, gegen die Ursprünge und das vorbürgerliche und vorrevolutionäre Erbe Europas war. Gewissermaßen nahm er Ernst Noltes Topos des europäischen Bürgerkriegs vorweg.

Solcher Deutungsmöglichkeit, die das deutsche Schicksal in den Kontext eines europäischen stellt und das nationale Ereignis in eine höhere symbolische Ordnung einfügt, spürt man im „Faustus“ vergebens nach. Der ungeheure Aufwand an sprachlicher Raffinesse, Ironie, Psychologie, das verschlungene Geflecht aus Anspielungen, Verweisen, musiktheoretischen Spekulationen verbirgt allerdings die Tatsache, daß es sich um einen Über-Essayismus handelt, dessen Gehalt kaum über den der unzähligen Schriften und Broschüren  hinausgeht, die nach Kriegsende über den „Irrweg einer Nation“ (Alexander Abusch) oder die „Deutsche Daseinsverfehlung“ (Ernst Niekisch) veröffentlicht wurden.

Thomas Manns Versuch, ein absolut Böses literarisch zu erfassen, bleibt in den Konventionen einer moralisierenden Kulturkritik mit politischer Absicht stecken. Hans Egon Holthusen spottete über Manns Weg von der „schonungslosen Karikierung der westlichen Völker bei bedenkenloser Glorifizierung alles Deutschen“ während des Ersten Weltkriegs „bis zur Verleumdung und Verteufelung des Deutschen bei entsprechender Verklärung der anderen“ im Zweiten. Den „Faustus“-Roman, dessen strikte Versuchsanordnung so völlig den alliierten Überlegungen zur „Umerziehung“ Deutschlands entsprach, nannte er eine „Welt ohne Transzendenz“.

Eine innovative Literatur hätte, nach Momenten der verständlichen Schockstarre, die von Thomas Mann als Gottesurteil dekretierte These der deutschen Höllenfahrt in ihrer historischen Begrenztheit und Bedingtheit darstellen und dekonstruieren müssen. Statt dessen wurde sie verinnerlicht und das transzendenzlose Vakuum – bekannt unter dem Namen „Stunde Null“ – durch eine Schuldtranszendenz gefüllt. So wurden die vermeintlichen klerikalen Verstrickungen zum Dauerthema Heinrich Bölls, Günter Grass bohrte nach den faschistoiden Tiefenschichten des deutschen Kleinbürgers, und Wolfgang Koeppen brachte den Außenseiter, den Exilanten, den „Ausländer des Gefühls“ gegen ein Dumpf-Deutsches in Stellung.

Es waren, wie schon angedeutet, weniger künstlerische als moralische Notwendigkeiten sowie das Bedürfnis nach psychologischer Entlastung und nach dem Arrangement mit den neuen Verhältnissen, die ihnen die Feder führte.

Eine innovative Literatur hätte die von Thomas Mann als Gottesurteil dekretierte These der deutschen Höllenfahrt 1945 in ihrer historischen      Begrenztheit und Bedingtheit darstellen und dekonstruieren müssen. Statt dessen wurde sie ­verinnerlicht.

Das erste Buch, das Wolfgang Koeppen nach dem Krieg veröffentlichte, waren die „Aufzeichnungen aus einem Erdloch“ (1948) des Juden Jakob Littner, der die NS-Zeit im Untergrund überlebt hatte. Was man lange für Koeppens ureigene Romanschöpfung hielt, war eine Bearbeitung von authentischen Notizen Littners. Im Vorwort zu einer Neuausgabe schrieb Koeppen fast 45 Jahre später: „Der Jude erzählte dem neuen Verleger, daß sein Gott die Hand über ihn gehalten habe. Der Verleger hörte zu, er notierte sich Orte und Daten. Der Entkommene suchte einen Schriftsteller. Der Verleger berichtete mir das Unglaubliche. Ich hatte es geträumt. Der Verleger fragte mich: ‘Willst du es schreiben?’ Der mißhandelte Mensch wollte weg, er wanderte aus nach Amerika. Er versprach mir ein Honorar, zwei Carepakete jeden Monat. Ich aß amerikanische Konserven und schrieb die Leidensgeschichte eines deutschen Juden. Da wurde es meine Geschichte.“ Das sind aufschlußreiche Sätze über das Zusammenspiel von materieller, ideeller und moralischer Verlockung, über die Identitätsfindung und ihren literarischen Niederschlag. Ein Buchtitel des Literaturwissenschaftlers Hans Mayer lautet folglich „Die umerzogene Literatur“.

Ihr Erfolg war weniger selbstverständlich, als es rückblickend erscheint. 1952 zürnte Walter Jens, wer „die junge Literatur totschweigt“, versündige sich „zugleich an Zeit und Ewigkeit“. Friedrich Sieburg entgegnete spöttisch, es sei die „fixe Idee“ dieser Literatur, „sie werde totgeschwiegen, und so versucht sie denn aus der Tatsache, daß man sie nicht lesen will, wenigstens ein Tröpfchen Martyrium zu pressen“. Die Leute lasen zu dieser Zeit „Deutschland, Deutschland über alles ...“ von Joachim Fernau; sie lasen Ernst von Salomons „Fragebogen“, der zum ersten Bestseller der Bundesrepublik wurde und auch ästhetisch die Romane Heinrich Bölls übertrifft. Von der Literaturkritik und der -geschichtsschreibung jedoch wurde er mit Schweigen quittiert, so daß er für die geistige Ausstattung der Bundesrepublik folgenlos blieb.

Wenn die Gründe für die eklatante Ungleichbehandlung nicht im Literarischen liegen, dann wohl außerhalb. Hans Egon Holthusen griff 1960 in der Süddeutschen Zeitung die kulturellen Nonkonformisten als glänzend besoldete Außenseiter an, die Schlüsselstellungen in der flächendeckend etablieren Kulturindustrie besetzt hielten. Inzwischen ist gut erforscht, daß der Siegeszug der Frankfurter Schule kein Triumph geistiger Überlegenheit, sondern generalstabsmäßig durchexerziert war. Analog dazu und zu den Untersuchungen über den Einfluß des SED-Staates auf den Literaturbetrieb in der DDR müßte geprüft werden, wie weit sich auch auf die bundesdeutsche Literatur sachfremde Einflüsse auswirkten und die Entwicklung bestimmten.

 

Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte Germanistik in Leipzig. Er war 1997/98 Kulturredakteur der JUNGEN FREIHEIT und arbeitet heute als freier Autor und Journalist in Berlin. 2004 wurde er mit dem Gerhard-Löwenthal-Preis für Journalisten ausgezeichnet. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über „Gutmenschen“ (JF 30/09).

Foto: Leihbibliothek: Die Nachkriegsliteratur der Bonner Bundesrepublik behauptet eine zählebige Existenz. Es geht nicht so sehr um Plazierungen in Bestsellerlisten, sondern um die Atmosphäre im öffentlichen Raum, die von den Säulenheiligen geprägt wurde und noch immer beherrschend ist.

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