© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/09 16. Oktober 2009

Schweigen ist Gold
Zwischenruf aus dem Reservat: Warum die Schriftsteller sich kaum mehr zu Wort melden
Thor Kunkel

 Es ist nicht die Einsicht in die eigene Wirkungslosigkeit, die Schriftsteller dazu treibt, zu gesellschaftlichen Veränderungen zu schweigen, sondern die begründete Angst, sich um die knapper werdenden Stipendien und Almosen der Kulturtechnokraten zu bringen. Jeder Fußballer, jede Viva-Moderatorin mischt sich provokanter in die Tagespolitik ein. Wir – ich nehme mich da nicht aus – verzichten auf Kommentar und üben uns vornehm im Schweigen. Weil Schweigen in diesem Land wieder Gold ist – auch oder erst recht nach der Bundestagswahl.

Selbst die allesfressende und wiederkäuende Kulturmaschinerie, die zunehmend einer literarischen Fuselbrennerei gleicht, wird kaum mehr kritisiert. Wer wirklich etwas zu schreiben hätte, meldet sich kaum mehr zu Wort. Und an wen könnte oder sollte er sich noch wenden?

Bis zum Fall der Mauer gab es in Deutschland mehr oder weniger stabile ideologische Blöcke. Jeder von ihnen hatte eigene Werte, und jeder dieser Blöcke verstand sich in Opposition zum jeweils anderen. Ein kritischer Schriftsteller kannte daher dadurch seine Adressaten. Als Linker konnte er sich an seine Genossen wenden, als Autor des Establishment an die Eliten. Seine intuitiven Analysen (vergessen wir nicht, daß Schriftsteller Dichter sind) dienten dem jeweiligen Lager zur Festigung der eigenen Ideologie. Natürlich nahmen die Walsers, Bölls, Enzensbergers und Biermänner und wie sie alle heißen zuweilen gerne die Attitüde des Großen Einzelnen an. Sie wollten nicht zu einem Lager gerechnet werden und riefen ihre Kritik auch gerne einmal hinüber zum nächsten Block.

Mit der Auflösung der weltanschaulichen Blöcke ist die Mystifikation des Einzelgängers, die zu Jack Kerouacs Zeiten dem Schriftsteller alleine gehörte, Allgemeingut geworden. Jeder ist atomisiert, jeder hängt mit einer Kleinstgruppe à la Die Riesenmaschine zusammen. Jedes Think-Cluster verteidigt seinen Besitzstand, eine Ideologie, die sie gleichzeitig trennt und verbindet. Alle sitzen vor ihrem Computer im Elfenbeinturm.

Wer heute noch Schriftsteller ist und als solcher wahrgenommen wird, der zählt zu einer Parallelgesellschaft, die sich auf der Sonnenseite des Lebens angesiedelt hat. Und weil der Spätkapitalismus zwar Wahlfreiheit behauptet, aber letztlich nur Uniformität zu bieten hat, muß er Vielfalt vortäuschen und verspricht seinen Individuen „Einzigartigkeit“. Jeder hat heute seinen eigenen Stil, jeder bloggt. Mit der Folge, daß ein Schriftsteller nicht mehr weiß, an wen er seine Kritik richten soll.

Er hat weder einen Einfluß auf die Unterdrücker, noch hat er einen Einfluß auf die Unterdrückten, die Illegalen, die Asylbewerber, die sozial Benachteiligten, die Straßenschläger mit Migrationshintergrund.

Er kennt sie nicht, sie lesen seine Bücher nicht und schreiben auch keine eigenen. Es ist auffällig, daß die Einwanderer in einem Einwanderungsland wie Deutschland kaum eine deutschsprachige Literatur hervorgebracht haben; die wenigen Ausnahmen – wie Feridun Zaimoglu, der übrigens „stolz ist, Deutscher zu sein“, und dem das erlaubt wird  – bestätigen die Regel. In anderen europäischen Ländern, in Großbritannien, Frankreich und Italien, kommen einige der wichtigsten literarischen Stimmen von Einwanderern und deren Kindern. Diese wären auch in Deutschland nötig, um eine Kritik zu formulieren, die nicht „treudeutsch“ (also unkritisch) die multikulturelle Utopie der Regierung verteidigt, sondern dieselbe mit den alltäglichen Auswirkungen in den Innenstädten konfrontiert.

Davon, seien wir ehrlich, sehen die meisten Bewohner der literarischen Reservate herzlich wenig – ganz gleich, ob links oder rechts, ob wirtschaftlich erfolgreich oder nicht, alle gehören zu einer Elite, von der sie wirtschaftlich abhängen. Dieser Elite hat der deutsche Schriftsteller wenig zu bieten, und im Gegenzug verzichtet diese Elite auf seine Kritik.

Diese Situation wird sich erst ändern, wenn wir unsere Gesellschaft wieder nach ihrer Zukunft befragen. Wozu noch Deutschland? Oder wie eine Aktion aus Berliner Künstlerkreisen kürzlich frech postulierte: DEUTSCHLAND BRAUCHT DICH – WOZU EIGENTLICH?

Ich wette, würde man in der Berliner Kastanienallee, wo die Jung-Schriftsteller wie Hühner in ihren Legebatterien hocken, von Tür zu Tür gehen, klingeln und diese Frage den Schreibenden stellen, die wenigstens hätten eine Antwort parat. Die meisten würden schweigen. Es wäre auf jeden Fall klüger. Die Fixierung auf die eigene Karriere verhindert ohnehin bestimmte Wahrnehmungen, die den Platz im Filz der Berliner Boheme gefährden. Warum die erkennbar wachsende Unterschicht literarisch bespiegeln, warum Mißstände anprangern, die man gottlob nicht kennt?

Die Akzeptanz des intellektuellen Verhaltenskodex, Political Correctness genannt, kommt inzwischen einer latenten antidemokratischen Verschwörung gleich, und man braucht kein Genie zu sein, um darin den Keim eines neuen Totalitarismus zu sehen. Nach Hannah Arendt sind solche Systeme bei den Eliten beliebt, weil sie „jeden Menschen auf eine sich immer gleich bleibende Identität von Reaktionen reduzieren“, was de facto einer Pawlowschen Konditionierung des Menschen entspricht. Die reinen Erregungsreflexe, die den aktuellen politischen Diskurs in Deutschland beherrschen und die eine rationale Auseinandersetzung mit den veränderten Realitäten verunmöglichen, sind die Ursache des Stillstands der deutschen Literatur.

Und hier wäre die Position des kritischen Schriftstellers, der von der Freiheit des Wortes Gebrauch macht. Fernab einer affirmativen Beschwörung der gesellschaftlichen Mißstände, die in einer literarischen Welt aus lauter kleinlichen Eigeninteressen bestenfalls aufgesetzt wirkt, hat er nun für ein kollektives Interesse einzustehen, nämlich für Freiheit. Literatur appellierte immer an sie, – an die Freiheit, die Dinge anders zu sehen.

Es geht in der Literatur nicht darum, eine überkommene und von oben abgesegnete Haltung zu kopieren oder zu einem System Ja und Amen zu sagen, das zunehmend immer weniger Fragen zu seiner Legitimität zulassen wird und uns durch unser Schweigen nicht einmal mehr nehmen muß, was doch Voraussetzung unserer Arbeit wäre  – das freie Wort nämlich.

 

Thor Kunkel, Jahrgang 1963, lebt als Schriftsteller in Berlin. 2004 erschien sein vieldiskutierter Roman „Endstufe“, zuletzt veröffentlichte er 2008 „Kuhls Kosmos“. Internet: www.thorkunkel.com

 Bei diesem Text handelt es sich um eine vom Autor selbst abgewandelte Fassung eines Essays, der in der Literaturzeitschrift „Glanz & Elend“ erschienen ist. Internet: www.glanzundelend.de 

 Foto: Waldgänger: Die Mystifikation des Einzelgängers, die früher dem Schriftsteller alleine gehörte, ist zum Allgemeingut geworden 

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