© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/09 16. Oktober 2009

Wenn der Hunger beißt
Mit dem Lorbeer des Nobelpreises: Herta Müllers Roman über die Odyssee der Rumäniendeutschen nach 1945
von Jörg Bernhard Bilke

Am 23. Juli dieses Jahres veröffentlichte die rumäniendeutsche Schriftstellerin Herta Müller in der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit einen langen Artikel „Die Securitate ist noch im Dienst“. Darin hat sie grauenvolle Einzelheiten ihrer Verfolgungsgeschichte durch den rumänischen Geheimdienst, der auch noch nach 1989/90 unter dem neuen Namen „Rumänischer Informationsdienst“ seine Verbrechen fortsetzt, aufgezählt: So wurden Angehörige der deutschen Minderheiten unter dem Negativbegriff „Deutsche Nationalisten und Faschisten“ erfaßt; Roland Kirsch, ein Freund von ihr, Ingenieur in einem Schlachthaus, der über die Tristesse des rumänischen Alltags kleine Prosastücke schrieb, wurde im Mai 1989 in seiner Wohnung von mordlustigen Mitarbeitern der „Securitate“ zur Abschreckung aufgehängt; der Hamburger Journalist Rolf Michaelis, der die Autorin in Temeswar besuchen wollte und ein Telegramm geschickt hatte, das nie angekommen ist, wurde im Keller des Hochhauses von drei „Securitate“-Leuten zusammengeschlagen, wobei ihm sämtliche Zehen gebrochen wurden. 

Herta Müller selbst, die in den Akten (914 Seiten) seit 8. März 1983 als „Cristina“ geführt wurde und der, wegen ihres Erzählungsbandes „Niederungen“ (1982),  „tendenziöse Verzerrungen der Realitäten“ vorgeworfen wurden, hat die gnadenlose Verfolgung vier Jahre hindurch erdulden müssen, mit zwei Anwerbungsversuchen und, nach der Verweigerung, mit der Drohung: „Es wird dir noch leid tun, wir ersäufen dich im Fluß.“ Und ein Jahr nachdem sie 1987 nach West-Berlin ausgereist war, erschien ihre angeblich beste Freundin zu Besuch, die inzwischen vom Geheimdienst angeworben worden war.

Wenn man das alles weiß, was gewiß nur ein Bruchteil dessen ist, was Herta Müller erlebt und verinnerlicht hat, dann versteht man, daß sie, die seit 1985, noch vor ihrer Ausreise, in Deutschland mit Preisen überhäuft wurde, nur ein Thema kennt: die fortwährende Entwürdigung des Menschen durch die kommunistische Diktatur, die jahrzehntelang die Staaten Osteuropas wie ein Krebsgeschwür überzog! Wenn man die Reihe ihrer Erzählungen und Romane überblickt, die sie seit 1987 veröffentlicht hat, ohne einer Zensur unterworfen worden zu sein, dann sieht man deutlich, daß sie im Reisegepäck einen ungeheuren Stoffvorrat aus kommunistischer Zeit mitgebracht hat, der noch lange nicht aufgezehrt ist. Besonders ihre Romane „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ (1992) und „Herztier“ (1994), für die sie mit dem Deutschen Kritikerpreis und dem Kleistpreis ausgezeichnet wurde, machten offenbar, daß sie von Schlüsselerlebnissen bedrängt wird, die nach literarischer Aufarbeitung verlangten.

Mit ihrem Roman „Atemschaukel“ aber greift die frischgebackene Literatur-Nobelpreisträgerin 2009 weit über ihr Geburtsjahr 1953 hinaus in eine Zeit, als das Ende des Zweiten Weltkriegs abzusehen war. Am 25. August 1944 hatte Rumänien die Fronten gewechselt und dem Deutschen Reich den Krieg erklärt, am 31. August die Rote Armee die Hauptstadt Bukarest besetzt. Auf sowjetrussischen Befehl wurden zwischen dem 11. und 16. Januar 1945 etwa 80.000 Rumäniendeutsche zu fünfjähriger Zwangsarbeit in die siegreiche Sowjetunion verschleppt. Davon waren alle Gruppen der deutschen Minderheit betroffen: Die Banater und Sathmarer Schwaben und die Siebenbürger Sachsen.

Herta Müller konnte noch ihre im Banat lebende Mutter befragen, die auch verschleppt war, viel später dann auch, im Jahr 2001, als sie systematisch Stoff über diese Tragödie zu sammeln begann, die Bewohner ihres Heimatdorfes und noch später den siebenbürgischen Lyriker Oskar Pastior (1927–2006), einen Betroffenen. Mit ihm und dem rumäniendeutschen Autor Ernest Wichner, der seit 2003 das Berliner Literaturhaus leitet, fuhr sie 2004 in die Ukraine, um die ehemaligen Lager, die Stätten des Grauens, zu suchen. So bildet den Kern des Romans auch das Schicksal Oskar Pastiors, der am 4. Oktober 2006 auf der Frankfurter Buchmesse verstorben war, und wurde der fiktiven Figur des 17jährigen Leo Auberg zugeordnet. Dieser junge Mann aus Hermannstadt in Siebenbürgen, dessen Verhaftung im ersten Kapitel „Vom Kofferpacken“ beschrieben wird, begreift nicht, was ihm geschieht und warum er von allen Verwandten, die hilflos zusehen müssen, beschenkt wird: „Es war 3 Uhr in der Nacht zum 15. Januar 1945, als die Patrouille mich holte. Die Kälte zog an, es waren minus 15 Grad. Wir fuhren auf dem Lastauto mit Plane durch die leere Stadt zur Messehalle. Es war die Festhalle der Sachsen. Und jetzt das Sammellager. In der Halle drängten sich an die 300 Menschen. Auf dem Fußboden lagen Matratzen und Strohsäcke. Die ganze Nacht kamen Autos, auch von den umliegenden Dörfern, und luden eingesammelte Leute aus. Gegen Morgen waren es an die 500.“

Es ist die Zeit des Hochstalinismus in Osteuropa, auch wenn dieses Wort und andere wie „Archipel Gulag“ nie erwähnt werden in den 34 Kapiteln dieses Buches. Menschenleben sind billig und besonders die einer deutschen Minderheit, der die deutsche Schuld aufgebürdet wird. In den Lagern, in denen die Verschleppten, ohne die Befristung zu kennen, fünf Jahre bei Schwerstarbeit ausharren müssen, wird ununterbrochen gehungert: „Ich wollte langsam essen, weil ich länger was von der Suppe haben wollte. Aber mein Hunger saß wie ein Hund vor dem Teller und fraß.“ Der verschleppte Rechtsanwalt Paul Gast stiehlt ständig seiner Frau die karge Essensration, bis sie an Hunger stirbt. Der Hunger ist so übermächtig, daß Herta Müller die Gestalt des „Hungerengels“ erfindet, der alles und alle beherrscht!

Eine der stärksten Szenen in diesem schier unausschöpfbaren Buch ist die Beschreibung eines Selbstmords: „Schon Ende Oktober schneite es Eisnägel in den Regen. Der Begleitposten und der Vorprüfer teilten uns die Norm zu und gingen gleich wieder ins Lager, in ihre warmen Dienststuben. Auf der Baustelle begann ein stiller Tag ohne Angst vor dem Geschrei der Kommandos. Doch mitten in diesen stillen Tag hat Irma Pfeifer geschrien. Vielleicht ‘Hilfe, Hilfe’ oder ‘Ich will nicht mehr’, man hat es nicht deutlich hören können. Wir sind mit Schaufeln und Holzlatten zur Mörtelgrube gerannt, nicht schnell genug, der Bauleiter stand schon da. Wir mußten alles aus den Händen fallen lassen. ‘Ruki nad sad’, Hände auf den Rücken – mit einer erhobenen Schaufel hat er uns gezwungen, tatenlos in den Mörtel zu schauen. Die Irma Pfeifer lag mit dem Gesicht nach unten, der Mörtel machte Blasen. Erst schluckte der Mörtel ihre Arme, dann schob sich die graue Decke bis zu den Kniekehlen hoch. Ewig lang, ein paar Sekunden, wartete der Mörtel mit gekräuselten Rüschen. Dann schwappte er mit einem Mal bis zur Hüfte, Zwischen Kopf und Mütze wackelte die Brühe. Der Kopf sank und die Mütze hob sich. Mit den gespreizten Ohrenklappen trieb die Mütze langsam an den Rand wie eine aufgeplusterte Taube. Der Hinterkopf, kahlgeschoren mit den verkrusteten Läusebissen, hielt sich noch oben wie eine halbe Zuckermelone. Als auch der Kopf geschluckt war, nur noch der Buckel herausschaute, sagte der Bauleiter: ‘Schalko, otschin Schalko’“ („Schade, sehr schade“).

Herta Müller: Atemschaukel. Roman. Hanser-Verlag, München 2009, gebunden, 304 Seiten, 19,90 Euro

Foto: Herta Müller: Im Reisegepäck einen ungeheuren Stoffvorrat über die fortwährende Entwürdigung des Menschen durch den Kommunismus  

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