© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/09 16. Oktober 2009

Eine Gespenstergeschichte für Erwachsene
Deutsche Bildungsromane: Der George-Kreis nach des „Meisters“ Tod
von Oliver Zeitler

 Man spricht wieder von Stefan George. Nicht erst seit Thomas Karlaufs Biographie des „Charismatikers“, die 2007 einen für dieses Genre nicht alltäglichen Publikumserfolg erzielte (JF 42/07).

Viel eher schon, bald nach dem Mauerfall, hatte der „Meister“, mehr aber noch sein „Kreis“, jene Adoranten und Trabanten, von denen sich nicht wenige in die deutsche Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts eingeschrieben haben, die interdisziplinäre Neugier von Kulturwissenschaftlern geweckt. Die im wörtlichsten Sinne schwergewichtige Studie von Carola Groppe („Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933“, 1997) sowie Rainer Kolks dicke Habilitationsschrift („Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–1945“, 1998) ragen unter einer Flut von Untersuchungen ebenso heraus wie der Zweipfünder Friedrich Voits über das Spätwerk Karl Wolfskehls (2005).

Mit den sich partiell überschneidenden Arbeiten von Groppe und Kolk liegen zwar hinreichend gründliche Analysen zur Wirkungsgeschichte dieses um 1900 gestifteten „Geistbundes“ vor, so wie sie sich zu Lebzeiten des am 4. Dezember 1933 verstorbenen Dichters entfaltet, wobei Kolk auch noch einen Blick ins Dritte Reich wirft und natürlich das wieder und wieder traktierte „Geheime Deutschland“ nicht unberücksichtigt lassen kann, das die Tat des 20. Juli 1944 für sich reklamiert. Was bislang aber in der Rezeptionsforschung fehlte, war die umfassende Erkundung von Georges Nachwirken und dem langsamen Verwelken seines Einflusses bis nahe an unsere Gegenwart heran. Ulrich Raulff, einst FAZ- und SZ-Feuilletonist, heute Direktor des Marbacher Literaturarchivs, hat sich dieses Desiderats des „Kreises ohne Meister“ angenommen.

Freilich nur unter der Voraussetzung, daß man ihm nachsehen möge, in dieses Dickicht einige Schneisen zu schlagen und sich um vieles nicht zu kümmern, was am Wege lag. Die Biographie des verstoßenen „Lieblingsjüngers“, des Germanisten Max Kommerell, schließt Raulff daher von vornherein aus. Ebenso, und das ist schon problematischer, den Theologensohn Wolfgang Frommel, seine Amsterdamer „Nebenkirche“ mitsamt seiner 2008 eingestellten Zeitschrift Castrum Peregrini (JF 18/08), von der Thomas Karlaufs „Nachruf“ zu Recht behauptete, sie habe die „eigentümliche Welt Stefan Georges, die Welt des ‘geheimen Deutschland’“, sogar bis an die Schwelle des 21. Jahrhunderts überliefert. Zu bedauern ist auch, daß sich Raulff nicht auf Wolfram von den Steinen einlassen wollte, nicht auf Ludwig Klages oder Gertrud Kantorowicz, während er sich für die letzten Jünger, die Brüder Stauffenberg, durch Peter Hoffmanns wohl ultimative Monographie und für Wolfskehl durch Voit entlastet fühlen durfte.

Es blieben natürlich „Georginen“ übergenug übrig, deren Lebensschicksale demjenigen reichen Ertrag versprachen, der den Gang in die Archive nicht scheut, die Nachlässe durchstöbert, die letzten Zeitzeugen befragt. Raulffs Wahl fiel dabei auf die Philosophin Edith Landmann, die sich in ihrer Griechenverehrung nur vom „Meister“ selbst übertreffen lassen wollte, auf den 1938 emigrierten Historiker Ernst H. Kantorowicz, dessen „reichsmythologisches“ Werk über den Stauferkaiser Friedrich II. (1927) zum kanonischen Text des späten George-Kreises avancierte, auf den Psychiater, Philosophen und Konstrukteur des „georgisierten Platon“ Kurt Hildebrandt, den Raulff als Typus des Überläufers vom geistigen Reich des „Kreises“ zum Dritten Reich präsentiert, auf den umtriebigen Hubertus Prinz zu Löwenstein und auf Erich von Kahler, die im Exil das politische Potential Georges auf recht konträre Weise auslegten, sowie auf zwei westdeutsche Bildungsreformer, Georg Picht und Hellmut Becker, deren Einfluß erst in den letzten Stunden der Bonner Republik versickerte.

Die Reliefs dieser Zentralgestalten mitsamt denen vieler Nebenfiguren von Ernst Morwitz bis Carlo Schmid zeigen durchaus unterschiedlich scharfe Profile. Am wenigsten originell fällt Raulffs Versuch über Ernst Kantorowicz aus. Hier speist er den versierten Leser mit einem öden Referat der Forschung ab, die sich in den letzten Jahren mit Enthusiasmus auf den „Chevalier“ des „Kreises“, den Sohn des Posener Judentums, gestürzt hat.

Wesentlich plastischer gerät ihm Beckers Biographie, überhaupt das beste Kapitel des Buches. Der Jurist Becker, Sohn des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker (1876–1933), einem der drei oder vier bedeutendsten in diesem Amt seit Wilhelm von Humboldt, springt dem Tod 1942 als Gebirgsjäger von der Schippe, zählt im Nürnberger „Wilhelmstraßen-Prozeß“ zu den Verteidigern Ernst von Weizsäckers, geht 1981 als Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Pension und hat als Freund der Familie unbeschränkten Zugang zum Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der wie sein Bruder, der Kernphysiker Carl Friedrich, ebenfalls vom „George-Erlebnis“ nicht unberührt geblieben sei.

Bei aller Annäherung Beckers an die „Frankfurter Schule“ glaubt Raulff bei ihm doch ein genuines Erbe Georges, einen Pfad von dessen platonischem „Gegenstaat“ in die „pädagogische Provinz der Bundesrepublik“ auszumachen: den Bildungsaristokratismus unter den Bedingungen des industriellen Massenzeitalters, der zurückwollte zu den „Idealen von Menschenbildung und Erziehung“. In den 1980er Jahren sei davon allerdings nur noch ein „Festreden- und Feiertagsgespenst“ übrig gewesen. Wie überhaupt viel in dieser eher einem Potpourri der Bildungsromane als einer Intellektuellensoziologie ähnelnden Arbeit für die Zeit nach 1945 an eine „Gespenstergeschichte für Erwachsene“ (Aby Warburg) erinnert.

Die größte, allerdings kaum vermeidbare Schwäche des Opus besteht darin, daß Raulff Redundanzen hätte riskieren müssen, wenn er das weltanschauliche „Programm“ des George-Kreises vor 1933 über die von ihm hingeworfenen Andeutungen zu Anti-Modernismus, Anti-Demokratismus und Anti-Historismus hinaus expliziert hätte. Ohne derart erzielbare Kontraste muß jedoch leider verwaschen bleiben, wie und bei wem wie nachhaltig sich diese Spielart des „Aufstands gegen die Moderne“ nach 1933 wandelte. Noch unzureichender ist die Behandlung der „Judensach“ (George, rheinhesselnd). Wahrlich nicht bedeutungslos, da sie den Kreis 1933 in NS-Anhänger, Innere Emigranten und Exilanten zersprengte. Raulff, insoweit auch geschmeidiger Wissenschaftsmanager, umschifft das Thema in weitem Bogen. Wo er „harten“ Zitaten der famosen deutschen Jüdin Edith Landmann, die beileibe mehr als nur ein „gewisses Verständnis“ für Judengegner offenbaren, nicht ausweichen kann, versteckt er sie in den Anmerkungen. Gegen seinen bête noir, den „Irrenarzt“ Kurt Hildebrandt, ruft er hingegen (risikolos, versteht sich!) für angeblich „rassistische“ Texte aus den 1960ern nachträglich nach dem Zensor.

Das Werk ist einigermaßen fehlerhaft im Detail. Zu den unverzeihlichen gehört die Behauptung, Reichsgerichtspräsident Walter Simons sei der „letzte Reichstagspräsident“ gewesen. Das rutscht ein wenig ab zu Luise Rinser, die auch nicht wußte, ob sie nun für das Amt des Bundes- oder des Bundestagspräsidenten kandidierte. Insgesamt kann man solche Schnitzer wie die erfreulich seltenen Druckfehler indes verschmerzen. Nicht jedoch das Fehlen eines Quellen- und Literaturverzeichnisses, ein Manko, das den Wissenschaftsverlag C. H. Beck bis auf die Knochen blamiert. 

Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. C. H. Beck Verlag, München 2009, gebunden, 544 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro

Foto: Der letzte Kreis: Claus von Stauffenberg, Walter Anton, Alexander v. Stauffenberg, Johann Anton, Albrecht v. Blumenthal, Max Kommerell, Berthold v. Stauffenberg (v.l.n.r.), Oktober 1924 in Berlin: Bildungsaristokratismus unter den Bedingungen des industriellen Massenzeitalters

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