© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/09 16. Oktober 2009

Mit den Wölfen heulen
Erich Lamp begründet die „Macht der öffentlichen Meinung“ mit der sozialen Natur des Menschen
von Michael Paulwitz

 Der Mensch ist ein Herdentier. Die Anerkennung durch die Gemeinschaft ist ihm überlebenswichtig, er sucht die Gesellschaft anderer und fürchtet die Ausgrenzung. Erich Lamp rückt diese „soziale Natur“ des Menschen, in der das „Bedürfnis nach Mit-Sein“ anthropologisch tief verwurzelt ist, in das ihr gebührende Licht: Sie ist eine wesentliche Grundlage für die gesellschaftliche Macht der „öffentlichen Meinung“.

Der Publizist, Germanist und Kunsthistoriker Erich Lamp liefert damit nicht nur die psychologische und anthropologische Erklärung für das Funktionieren von Schweigespiralen und Kampagnenjournalismus. Er löst zugleich das Paradox auf, daß öffentliches Anpassertum gerade dann gedeiht, wenn „Querdenken“ und autonomer Individualismus als gesellschaftliches Idealbild gelten, dem gerade die Konformisten selbst am meisten zu entsprechen meinen.

Die Sozialnatur, meint Lamp, läßt sich eben nicht verleugnen; sie sei für unsere Existenz „genauso unverzichtbar wie Wasser, Sauerstoff, Eiweiß, Fett“, zitiert er Carl Gustav Jung. Empirisch untermauert Lamp diesen Befund mit den Ergebnissen von Experimenten, Selbstversuchen und Befragungsergebnissen, die die dominante Kraft des Peinlichkeitsempfindens und der vermeintlich leicht zu überwindenden Furcht vor dem Urteil anderer eindrucksvoll bestätigen.

Das erklärt, warum die in unserem exhibitionistischen Zeitalter läßlich erscheinenden Pranger- und Schandstrafen in früheren Jahrhunderten als schwere Sanktionen mit ungeheurer Disziplinierungswirkung empfunden wurden. Der Angriff auf die Sozialnatur, die Vernichtung der sozialen kann die Auslöschung der physischen Existenz unmittelbar nach sich ziehen. Daß diese anthropologische Konstante auch im 21. Jahrhundert noch gilt, kann nicht nur die in den USA praktizierte modernisierte Wiedereinführung der Prangerstrafe für Sexualstraftäter im Internet belegen, sondern ebenso die sich häufenden Fälle von Selbsttötungen nach gnadenlosem „Mobbing“ in sozialen Netzwerken.

Vor allem aber interessiert Lamp, Akademischer Direktor an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und Privatdozent am dortigen Institut für Publizistik, die Rolle der menschlichen Sozialnatur in der Bildung und Formierung öffentlicher Meinung. Diese unterliegt einer signifikanten Bedeutungsverschiebung. Ihr rationales Verständnis als aufklärerisches Instrument der Volkssouveränität, der Teilhabe des sich seines eigenen Verstandes bedienenden Bürgers an Staatspolitik und Gesetzgebung, ignoriert die soziale Natur des „Herdentiers“ Mensch, die eben nicht nur eine individuelle Schwäche ist, sondern eine gesellschaftliche Funktion hat. Lamp möchte öffentliche Meinung daher als „alle umschließende Integrationskraft“ verstanden wissen.

Elitäre Abwendung ist in den Augen Lamps folglich kein angemessener Umgang mit der öffentlichen Meinung, die unter den Bedingungen der Massengesellschaft und dominiert von den Massenmedien allgegenwärtige soziale Kontrolle bei größtmöglicher Öffentlichkeit bedeutet. „Political Correctness“, die Kanonisierung bestimmter Ansichten und die massive soziale Sanktionierung jeden Verstoßes dagegen, ist eine notwendige Folge, aber kein statischer Endzustand. Öffentliche Meinung ist ein dialektischer Prozeß; sie ist in Bewegung, obwohl oder gerade weil es so schwer ist, nicht mit den Wölfen zu heulen und gegen den Strom zu schwimmen.

„Der öffentlich bekundete Widerspruch mit der hierdurch provozierten Mißbilligung der Umwelt ist ja zugleich ein Handeln gegen die eigene Sozialnatur“, konstatiert Lamp. Doch die Herausforderung der öffentlichen Meinung birgt „stets die Möglichkeit, einer neuen öffentlichen Meinung den Weg zu weisen“, die sich, einmal von den Massenmedien aufgegriffen, um so rascher ausbreiten kann. Passend hierzu beschreibt Lamp an anderer Stelle den Prozeß der Akzeptanz von Homosexualität und Abtreibung nach der Überwindung der Öffentlichkeitsschwelle und der Enttabuisierung durch Entkriminalisierung.

Hat sich eine neue öffentliche Meinung durchgesetzt, „wird es immer auch Menschen geben, die sich diesem Wandel verschließen und an der überholten Meinung und den alten Anschauungen festhalten“ und nun ihrerseits gegen den Strom schwimmen. „Lassen sie sich durch die Ablehnung ihrer Mitmenschen nicht beirren und bleiben beharrlich ihrer Haltung treu, ist es gut möglich, daß (...) die Verfechter der überholten öffentlichen Meinung so unversehens zu Vorreitern einer neuen öffentlichen Meinung werden, in der die alten Positionen wieder gesellschaftsfähig sind“. Das darf man getrost als Ermunterung verstehen.

Erich Lamp: Die Macht öffentlicher Meinung – und warum wir uns ihr beugen. Über die Schattenseite der menschlichen Natur. Olzog Verlag, München 2009, broschiert, 176 Seiten, 22 Euro

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