© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/09 23. Oktober 2009

Neuer Kurs in stürmischer See
Japan: Die Regierung Hatoyama hat zwar eine komfortable Mehrheit, aber wegen der Krise nur einen eingeschränkten Handlungsspielraum
Albrecht Rothacher

Die neue Regierung unter Yukio Hatoyama genießt derzeit trotz Krise noch ihre politischen Flitterwochen. Das Publikum und die Medien erfreuen sich an den neuen unverbrauchten Gesichtern und erwarten die Umsetzung der unerfüllbaren Wahlkampfversprechen, die es praktisch jedermann richten sollen. Hatoyamas Demokratische Partei (DPJ) errang am 30. August einen Erdrutschsieg bei den Wahlen zum Shūgiin (Unterhaus) – die seit der Nachkriegszeit quasi dauerregierenden konservativen Liberaldemokraten (LDP) verloren fast zwei Drittel ihrer Mandate (JF 37/09).

Mit einer sicheren Unterhausmehrheit von 308 von 480 Sitzen (und mit einer knappen Mehrheit im Sangiin/Oberhaus dank einer Koalition mit der kleinen konservativen Neuen Volkspartei und den dezimierten Sozialdemokraten) glaubt die neue DPJ-Regierung ihre fünfjährige Legislaturperiode auch nach den bald unvermeidlichen Ernüchterungen voll ausschöpfen zu können. 1993 war die erste Anti-LDP-Koalition unter dem LDP-Dissidenten Morihiro Hosokawa nach nur acht Monaten im Chaos schnell auseinandergebrochen.

Sozialisten-Chef Tomiichi Murayama konnte sich dann zwar – mit Hilfe des „neuen“ Koalitionspartners LDP – bis Anfang 1996 als Regierungschef halten. Zur allgemeinen Erleichterung kehrte danach aber die „ewige“ Regierungspartei LDP für die nächsten 13 Jahre wieder an die Spitze der Regierungsmacht zurück. Auch wenn diesmal die DPJ als dominierende Partei mit zwei Minipartnern formal im Vorteil ist, herrscht an neuen Widersprüchen dennoch kein Mangel. So will der 62jährige Hatoyama (bis 1993 ebenfalls LDP-Politiker) mehr für den Klimaschutz tun und gegen den Widerstand des Industrieverbandes Nippon Keidanren die CO2-Emissionen von 1990 bis 2020 um 25 Prozent (statt der bisher vorgeschlagenen acht Prozent) senken. Gleichzeitig will er aber die teure Autobahnmaut abschaffen, die bislang die Japaner von den überfüllten Schnellstraßen in die teuren (aber pünktlichen und sauberen) Züge nötigte. Im erwartbaren Dauerstau werden die Abgase kaum geringer – dafür fehlen die entsprechenden Einnahmen.

Wer soll all die teuren Wahlversprechen bezahlen?

Der 77jährige Finanzminister Hirohisa Fujii (der 1993 in selbiger Position unter Hosokawa diente) will einen starken Yen, um die Kaufkraft der Japaner zu stärken. Bei nunmehr 90 Yen zum US-Dollar droht der zarten Exportbelebung das Lebenslicht ausgelöscht zu werden. Das freut die Wettbewerber und bedroht die zarte Konjunkturerholung der japanischen Exportwirtschaft.

Für ihr Versprechen, überflüssige Bauprojekte der LDP-Konjunkturprogramme zu streichen, gab es allenthalben Beifallsstürme für die Demokraten. Von den umgerechnet etwa 111 Milliarden Euro der Sonderhaushalte sind nach dem aktuellen Kassensturz rund 61 Milliarden Euro noch nicht ausgegeben. Mitunter ist es leicht, den vierspurigen Ausbau einer kaum benutzten Provinzautobahn zu stoppen. Doch häufig sind die Vorarbeiten wie bei dem seit 1965 geplanten riesigen Yamba-Damm in der Gumma-Präfektur so weit fortgeschritten und die Bevölkerung in Erwartung der Talsperre abgesiedelt, daß der vorgesehene Baustopp einer regionalen Katastrophe gleichkommt. In vielen abgelegenen Regionen ist die Baubranche zudem der wichtigste Arbeitgeber. Ohne öffentliche Aufträge gäbe es dort nur Arbeitslosigkeit und verstärkte Abwanderung in die übervölkerten Zentren.

Mit den eingesparten Mitteln sollen höhere Kindergelder, erhöhte Mindest­renten und die Abschaffung von Oberschulgebühren finanziert werden. Wie mit gestrichenen Einmal-Ausgaben ohne Steuererhöhungen Dauerausgaben finanziert werden sollen, hat aus der neuen Regierung allerdings noch niemand erklärt. Die Staatsverschuldung von inzwischen 200 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (die höchste aller Industriestaaten) schränkt den Spielraum ein. In den im vorigen Jahrzehnt stark flexibilisierten Arbeitsmärkten Japans haben inzwischen ein Drittel der Beschäftigten nur Teilzeitstellen. Junge Leute können so keine Familie gründen. Die DPJ versprach, Teilzeitverträge gesetzlich einzuschränken. Die Absicht ist löblich. Doch wird so bei 5,4 Prozent offizieller Arbeitslosigkeit der Stellenabbau wohl noch weiter beschleunigt.

Auch auf anderen Gebieten ist die neue Regierung keineswegs reformfreudig. So wurde der Hauptgegner der Postprivatisierung, Shizuka Kamei (Ex-LDP, seit kurzem Chef der Neuen Volkspartei), zum neuen Postminister ernannt. Hirotaka Akamatsu (DPJ, bis 1990 ehemaliger sozialistischer Parteisekretär) wurde mit dem Versprechen Landwirtschaftsminister, die agrarischen Selbstversorgungsraten wieder auf 60 Prozent anzuheben. Der 63jährige DPJ-Oberhausabgeordnete Masayuki Naoshima, ein früherer Toyota-Gewerkschafter, wurde Wirtschafts- und Handelsminister. In der Außenpolitik, die von dem 56jährigen Harvard-Absolventen Katsuya Okada umgesetzt werden soll, will Hatoyama einen von den USA unabhängigeren Kurs fahren.

So wird Japan jetzt die Betankungsaktionen für die US-Flotte im Indischen Ozean einstellen, gegen die die DPJ in der Opposition stets polemisiert hatte. Die US-Truppenstationierungen, die vor allem auf Okinawa konzentriert sind und dort stets Konflikte (etwa nach Vergewaltigungen durch US-Marines) mit der örtlichen Bevölkerung geschaffen hatten, sollen umverhandelt werden. Ob sich die Amerikaner darauf einlassen oder ihren Abzug androhen werden, ist noch offen. Verteidigungsminister Toshimi Kitazawa (DPJ) ist vorige Woche schon zurückgerudert: Da China seine Präsenz in der pazifisch-asiatischen Region verstärke, werde sich „der Wert des amerikanisch-japanischen Bündnisses sogar vergrößern“. Auch angesichts der wachsenden Atom- und Raketenmacht Nordkoreas hat das 1945 weitgehend demilitarisierte Japan den nuklearen Schutzschild der unter Barack Obama sichtbar wankelmütig gewordenen USA mehr denn je nötig.

Die neuen Entscheidungen der DPJ-Regierung sollen künftig auch gegen den Willen der starken Ministerialbürokratie – die sich in den letzten 60 Jahren zu sehr an die Zusammenarbeit mit der LDP gewöhnt hatte – durchgesetzt werden. Hatoyama untersagte deshalb die wöchentliche Konferenz der beamteten Staatsminister, die seit 123 Jahren getagt und die Kabinettssitzungen vorbereitet hatte. Statt dessen sollen die politischen Vizeminister diese Aufgabe jetzt wahrnehmen. Ein bei Hatoyama angesiedelter Strategierat soll die großen Linien der Politik bestimmen.

Ob dieser die aktuellen Widersprüche lösen kann, ist mehr als ungewiß. Doch steht für alle Fälle ein starker Mann im Hintergrund bereit: Ichiro Ozawa (67), bis zum Frühjahr DPJ-Chef und damals über illegale Spenden aus der mit ihm eng verbundenen Bauindustrie gestolpert.

Der 67jährige DPJ-Generalsekretär hat mit seinem Geld den Wahlkampf von gut 150 der 308 DPJ-Abgeordneten (darunter auch die 26 politisch unerfahrenen „Ozawa-Girls“ wie das Filmsternchen Mieko Tanaka) finanziert. Vor allem sie sind Ozawa nunmehr als stärkste Fraktion in dem heterogenen Politspektrum der DPJ – das von nationalliberal bis rechtsso-zialdemokratisch reicht – treu ergeben. Als gewiefter Taktiker könnte Ozawa den als weltfremd geltenden Schöngeist Hatoyama mutmaßlich unschwer im richtigen Moment aushebeln.

 

Dr. Albrecht Rothacher ist Japanologe und Asien-Experte. Er ist Autor des Buches „Die Rückkehr der Samurai. Japans Wirtschaft nach der Krise“ (Springer Verlag 2007).

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen