© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/09 23. Oktober 2009

Zerbrechen einer Schicksalsgemeinschaft
Vor siebzig Jahren: Der sowjetische Einmarsch in Polen wird insbesondere von einer jüdischen Minderheit als Befreiung empfunden
Andrzej Madela

Das Foto vom 22. September 1939 zeigt die Panzergenerale Heinz Guderian und Semjon Moissejewitsch Kriwoschein in erkennbar gelöster, ja fast heiterer Stimmung. Deren Grund ist wohl die schneidige Siegesparade ihrer Truppen in Brest (polnischen Brzesc). Mit 620.000 Rotarmisten sind Hitlers Verbündete fünf Tage zuvor in Ostpolen eingefallen. Und während beide Beobachter einander noch die Vorzüge ihrer so unverhofften Waffenbrüderschaft erläutern, leisten hinter den Linien die Einsatzgruppen des NKWD bereits Schwerstarbeit. Dabei fällt der exekutive Fortschritt enorm aus. Bis Juni 1941 werden sie 20.000 gefangene Offiziere erschossen, das besetzte Gebiet von weiteren 40.000 „klassenfremden Elementen“ gründlich „gesäubert“ und über 400.000 Zivilisten nach Kasachstan und Sibirien deportiert haben.

Kommunistische Juden als sowjetische Kollaborateure

Daß der sowjetische Todeszug bereits in voller Fahrt ist, davon ahnen die meisten Bewohner des national und religiös gespaltenen Landesteils östlich der deutsch-sowjetischen Demarkationslinie indes noch nichts. Unter seinen 13 Millionen machen die staatstragenden Polen 5,2 Millionen aus, dicht gefolgt von 4,6 Millionen Ukrainern. Mit 1,1 Millionen stellen die Juden die drittgrößte Volksgemeinschaft, die restlichen zwei Millionen entfallen auf Litauer, Weißrussen, Russen und Deutsche. Bis 1939 bleiben hier Verwaltung, Bildung, Justiz und Militär fest in polnischer Hand, ukrainische Autonomiesehnsüchte hingegen unerfüllt, jüdische und litauische Emanzipationswünsche meist ein Fremdwort. Die polnisch dominierten Städte stehen im Dauerwiderspruch zur ukrainisch-weißrussisch dominierten Provinz. So gleicht die Konfliktkonstellation in der agrarisch-rückständigen Region einer Büchse der Pandora. Durch den Einmarsch der Sowjets am 17. September wird diese geöffnet.

Da für die Besatzer das verwirrende Nebeneinander aus Ethnien, Sprachen und Religionen oft ein Buch mit sieben Siegeln ist, suchen sie Verbündete. Jetzt schlägt die Stunde der zwar zahlenmäßig kleinen, politisch jedoch überaus aktiven Minderheit des radikal linken Judentums. Diese hat bereits in den zwanziger Jahren mit ihrer angestammten Umgebung gebrochen. Ihre Vorkämpfer definieren sich weder traditionell über die Herkunft noch modern über die Staatsbürgerschaft, sondern über das politische Bewußtsein – als Linke, zumeist Kommunisten. Politisch und sozial benachteiligt, zudem meist bar jeglicher Loyalitätsgefühle gegenüber Polen, entwickeln sie lange vor Kriegsausbruch starke Sympathien für die Sowjetunion. So verdichtet sich bei ihnen der Einmarsch der Roten Armee zur Hoffnung auf sozialen Aufstieg und politische Besserstellung – und läßt sie vielfach diejenigen als Befreier begrüßen, welche für die Mehrheit als Besatzer gelten.

Dieser Aufstieg findet tatsächlich statt, allerdings begleitet von all den Erscheinungen, die eine sowjetisierte Gesellschaft auszeichnen: Kollektivierung, Zwangsenteignung, Mangel- und Vetternwirtschaft, Korruption, Gesinnungsschnüffelei und Denunziation. Er geschieht naturgemäß zu Lasten anderer Volksgruppen – vor allem der Polen und Ukrainer. Und er vollzieht sich paradoxerweise parallel zur gleichzeitigen Zerschlagung der traditionellen jüdischen Eliten, die die Sowjets und ihre Helfershelfer entweder nach Kasachstan bzw. Sibirien deportieren oder – in Fällen „erwiesener“ Klassenfeindschaft – vor Ort exekutieren. Der Vernichtungszug gegen die althergebrachte Führung atomisiert die jüdische Gesellschaft vollends und läßt sie die Tuchfühlung zu anderen Volksgruppen allmählich verlieren.

Dies ist der Hintergrund, vor dem die bisherigen Bürger zweiter Klasse nun, im Herbst 1939, massenhaft in den sowjetischen Besatzungsapparat einrücken, Polizei und Verwaltung beherrschen, Bildung, Justiz und Gesinnung überwachen. Je nach Region und Sachbereich machen sie sechzig bis achtzig Prozent des zuständigen Personals aus. Der prosowjetische Aktivismus dieser neuen, plebejischen Elite richtet sich freilich zuallererst gegen die Vertreter der alten Ordnung, macht jedoch auch vor der eigenen Volksgruppe nicht halt: etwa zwanzig Prozent der von dort 1939 bis 1941 Verbannten sind Juden.

Auf jeden Fall bildet die überproportionale Teilhabe der linksgerichteten Juden am sowjetischen Terror in Ostpolen eine Zäsur. Daß die jüdische Mehrheit großes Unrecht erleidet, gerät in Vergessenheit. Dem kollektiven Gedächtnis der Besetzten prägt sich hingegen das Bild von elitären Nutznießern und eifrigen Erfüllungsgehilfen bei der Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung in den knapp zwei Jahren sowjetischer Gewaltherrschaft ein. Alte Vorurteile erhalten eine neue Qualität. Für die überwiegende Mehrheit der Besetzten werden Juden nun, was sie bis zum Kriegsausbruch definitiv nicht waren: politische Feinde.

Juden-Pogrome der Polen und Ukrainer nach 1941

Die vernichtende Niederlage der Roten Armee in Ostpolen im Sommer 1941 öffnet ihrerseits Tür und Tor der Vergeltung wie etwa im masowischen Jedwabne, die sich besonders exzessiv dort entlädt, wo die nunmehrigen Täter zuvor vielfach selbst Opfer waren. Die Morde aus ihrer Hand an den Juden im Osten sind unzweifelhaft, vielfach ist gar anzunehmen, daß der Wille zur Verfolgung gar nicht erst durch die deutschen Einsatzgruppen und ihre Mordkommandos entfacht werden mußte. Im Kräftefeld zweier totalitärer Diktaturen zerbricht die alte Schicksalsgemeinschaft. An deren Stelle tritt eine Rivalität, in der Haß, Unterdrückung, Rache und Demütigung eine entscheidende Rolle spielen.

Der Bruch scheint zum Ende des Krieges endgültig besiegelt. So belegen zahlreiche jüdische Tagebücher der Jahre 1944/45 ein befreites Aufatmen und eine unbändige Freude über den sowjetischen Sieg über Hitler. Polnische Aufzeichnungen aus demselben Zeitraum registrieren diesen Vormarsch anders. Die Freude über die Niederlage des deutschen Aggressors wird eingetrübt von der Gewißheit, eine rassisch motivierte Unfreiheit gegen deren klassenmäßige Variante eingetauscht zu haben. Letzteres gebietet in Polen eine Distanz gegenüber dem sowjetischen „Befreier“ – der wiederum für viele Verfolgten eine Erlösung bedeutete.

Foto: Synagoge von Jedwabne vor 1914; polnischer Gedenksteinnach 1945, der die Gestapo als Mörder an den Juden vom 10. Juli 1941 bezeichnet: Zu politischen Feinden der Polen geworden

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