© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/09 23. Oktober 2009

Relativismus als Staatsideologie
Die Utopie und ihr Halbbruder
von Peter Kuntze

Die Bundestagswahl vom 27. September war ohne Zweifel eine überaus bedeutsame Richtungsentscheidung hinsichtlich der künftigen Verteilungspolitik des Staates; noch grundlegender dürfte der für 2013 zu erwartende Wahlkampf zwischen dem „bürgerlichen“ und dem linken Lager werden. Dennoch sollte sich niemand Illusionen hingeben: Alle sechs im Bundestag vertretenen Parteien verfechten, ungeachtet ihrer sonstigen Differenzen, eine gemeinsame Ideologie, die mittlerweile einer Staatsräson gleichkommt. Diese alles überwölbende Ideologie drückt sich in einem einzigen Leitsatz aus: „Deutschland ist ein weltoffenes und tolerantes Land.“

Eine selbstverständliche und harmlose Aussage, sollte man meinen. Doch die beiden Adjektive „weltoffen“ und „tolerant“ sind in einem Orwellschen Neusprech völlig einseitig konnotiert: „Weltoffen“ bedeutet Multi-Ethnisierung und Multikulturalisierung des eigenen Landes, „tolerant“ meint primär das Akzeptieren der Homosexualität und anderer Störungen der Sexualpräferenz als natürliche Erscheinungen geschlechtlicher Orientierung – bis hin zur gleichgeschlechtlichen „Ehe“ mit Adoptionsrecht.

Die sich in jenen beiden Begriffen ausdrückende Ideologie wurde, nicht zuletzt aufgrund von EU-Vorgaben (Antidiskriminierungsgesetz), unter Rot-Grün legislativ vorangetrieben, unter Schwarz-Rot formalisiert (Islam-, Integrations-, Bildungsgipfel) und wird von Schwarz-Gelb zweifelsohne weiter in die Praxis umgesetzt werden. Schließlich handelt es sich bei dem Ideengut, das dem gesellschaftspolitischen Wandlungsprozeß zugrunde liegt, um ein Amalgam aus kosmopolitischem Liberalismus und linkem Internationalismus; es hat sich im Nachklang der 68er-Revolution herausgebildet und bestimmt seit zwei Jahrzehnten auch die Programmatik der Unionsparteien, in denen alle konservativen Restbestände zugunsten einer zeitgeistigen „Moderne“ aufgegeben worden sind. Ziel jener allseits propagierten Staatsideologie ist die Verwirklichung der Utopie einer staaten- und klassenlosen Weltgesellschaft vorgeblich toleranter und vorurteilsfreier Bürger (One world-Konzept).

Befeuert wird das Projekt von einer linksliberalen Kulturschickeria, die die Kommandohöhen der meisten Feuilletons besetzt hält und die Deutungshoheit über Deutschlands Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erobert hat. Jeder wird niederkartätscht, der sich diesem Kartell entgegenzustellen wagt – sei es, daß er auf den Mindeststandards nationalstaatlicher Souveränität beharrt, wie sie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag postuliert hat, sei es, daß er auf die kulturelle Identität des autochthonen Staatsvolkes pocht, das durch gemeinsame Geschichte und Sprache eine Schicksalsgemeinschaft bildet und laut Grundgesetz noch immer der Souverän ist, dem sich Kanzler und Minister durch ihren Amtseid verpflichten.

Als reaktionärer xeno- und homophober Spießer wird angeprangert, wer sich außerhalb der Gemeinde jener „Anständigen“ stellt, die Bundeskanzler Schröder 2000 auf einer Großdemonstration zum Aufstand aufgerufen hatte; wird jemand gar als „Rassist“ oder „Neonazi“ gebrandmarkt, läuft er Gefahr, seine bürgerliche Existenz zu verlieren. Wie gefährlich es ist, dem politisch korrekten mainstream die Gefolgschaft zu verweigern, und wie schmal der Grat der Meinungsfreiheit inzwischen geworden ist, mußte Thilo Sarrazin, der frühere Berliner Finanzsenator und heutige Bundesbanker, bekanntlich Anfang Oktober erfahren.

Die beiden Adjektive „weltoffen“ und „tolerant“ sind in einem Orwellschen Neusprech völlig einseitig konnotiert: Weltoffen bedeutet Massenzuwanderung und Überfremdung des eigenen Landes, tolerant meint primär das Akzeptieren der Homosexualität.

In dem Interview mit Lettre international hatte Sarrazin einige jener Wahrheiten ausgesprochen, die mit einem Tabu belegt sind: Die Bildungspopulation in Berlin werde „von Generation zu Generation dümmer“, vierzig Prozent der Geburten fänden mittlerweile in der Unterschicht statt. Besonders groß seien die Bildungsdefizite bei Türken und Arabern, die überdies in ihrer Mehrheit den deutschen Staat ablehnten und integrationsunwillig seien. Zur Lösung des Problems sagte der SPD-Politiker: „Meine Vorstellung wäre: generell keinen Zuzug mehr außer für Hochqualifizierte und perspektivisch keine Transferleistungen mehr für Einwanderer.“ Sofort mußte sich Sarrazin entschuldigen und wurde im Vorstand der Bundesbank teilentmachtet, während die Berliner Staatsanwaltschaft umgehend Ermittlungen wegen des Verdachts der Volksverhetzung aufnahm.

Ins Fadenkreuz derer, die den „Kampf gegen Rechts“ führen, könnten demnächst selbst jene Karlsruher Verfassungsrichter geraten, die das Lissabon-Urteil gefällt haben. Ihnen warf Nord­rhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) im September anläßlich der Ratifizierung des EU-Reformvertrags im Bundesrat ein überholtes Staatsverständnis vor: „Das Urteil ist zu traditionell, zu sehr auf die alte Einheit von Volk, Nation und Staat fixiert.“ Naiv ist daher, wer glaubt, der „Kampf gegen Rechts“ richte sich vornehmlich gegen den extremistischen Narrensaum völkischer Rassenideologen.

In Wahrheit zielt er längst auf alle konservativen Positionen, die in jedem anderen Land zum normalen demokratischen Spektrum gehören. In Deutschland jedoch ist es wegen der historischen Verbrechen des Nationalsozialismus ein leichtes, alles als „neofaschistisch“ und somit als verfassungsfeindlich zu denunzieren, was dem Projekt des multikulturellen Umbaus der Gesellschaft und der allmählichen Auflösung des Nationalstaates im Wege steht.

Überaus erfolgreich war bisher das Projekt, alle sexuellen Orientierungen als gleichberechtigt durchzusetzen. Bereits unter Rot-Grün hatte dies nach Auskunft des damaligen Bundesbildungsministeriums als vorrangige Aufgabe des Staates gegolten: „Gleichstellungspolitik mittels der politischen Strategie des Gender Mainstreaming hat die Bundesregierung als durchgängiges Leitprinzip und Querschnittsaufgabe festgelegt.“

Bei der „Gleichstellung“ geht es in Wahrheit um die Auflösung der bisherigen gesellschaftlichen Realität, die sich in der Geschlechterdifferenz von Mann und Frau und in der Heterosexualität als Norm spiegelt: „Gender bezeichnet die gesellschaftlich, sozial und kulturell geprägten Geschlechtsrollen von Frauen und Männern. Diese sind – anders als das biologische Geschlecht – erlernt und damit auch veränderbar.“ Als Konsequenz der von Schwarz-Rot fortgesetzten Politik, die schon in Kindergärten und Schulen propagiert wird, ist heute „Familie dort, wo Kinder sind“ – also auch bei Alleinerziehenden und schwulen wie lesbischen Paaren.

Diesen Relativismus, der sich inzwischen auf alle anderen gesellschaftlichen Bereiche erstreckt, hat der amerikanische Rechtsphilosoph Richard Rorty auf den Punkt gebracht. Für Rorty ist das Ideal „eine liberale Gesellschaft, in der absolute Werte und Maßstäbe nicht mehr existieren werden“. Das Wohlbefinden werde das einzige sein, das anzustreben sich lohne. Der Kampfbegriff des Werte-Relativismus ist daher die „positive Toleranz“; sie gesteht jedem seinen eigenen Standpunkt zu, verlangt aber, daß alle anderen Positionen als gleichberechtigt akzeptiert werden. Negative Urteile über andere Standpunkte dürfen somit nicht gefällt werden, weil dies diskriminierend wäre (vergleiche Gabriele Kuby: „Die Gender-Revolution – Relativismus in Aktion“, JF 6/07).

Wenn der Zeit-Autor Ulrich Greiner angesichts der fortgesetzten Erosion der Volksparteien konstatiert, daß dieses Land „in Interessengruppen zerfallen ist“ und es keine die verschiedensten Schichten und Milieus überwölbende Idee mehr gebe (1. Oktober 2009), so beklagt er nicht zuletzt das Zerstörungswerk auch seines eigenen Blatts. Wer im Verein mit anderen liberalen und linken Medien ständig alle gewachsenen Ordnungen „dekonstruiert“ und eine nationale Leitkultur als „Deutschtümelei“ denunziert, darf sich über das ernüchternde Resultat nicht wundern – der propagierte Werte-Relativismus endet zwangsläufig in Nihilismus und Hedonismus.

Die von allen Bundestagsparteien verfochtene Ideologie führt zu einer Politisierung in Kindergärten und Schulen, in Unternehmen und Betrieben sowie in Vereinen und Massenorganisationen wie dem Deutschen Fußballbund (DFB). Am 26. September, einen Tag vor der Bundestagswahl, erschien als Verlagsbeilage der Süddeutschen Zeitung das jüngste Produkt des staatlich geförderten Relativismus: „Vielfalt erleben – Das Magazin für Diversity Management“, herausgegeben von Daimler, E.ON, Henkel, McDonald’s und PricewaterhouseCoopers.

Dem Geleitwort Maria Böhmers, in der schwarz-roten Koalition Beauftragte für Migration, Integration und Flüchtlinge, ist zu entnehmen, daß Ende 2006 die Unternehmensinitiative „Charta der Vielfalt“ unter der Schirmherrschaft Angela Merkels gegründet worden ist. In dieser Charta verpflichten sich die Mitglieder, „eine Unternehmenskultur zu schaffen, die alle Talente in der Belegschaft fördert und anerkennt – unabhängig von Geschlecht, Rasse, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller Orientierung und Identität“. Mehr als 600 Unternehmen, Hochschulen und Behörden sind dem Netzwerk bereits beigetreten.

In der Erstausgabe des Heftes wird eingeräumt, daß „Diversity Management“ von vielen in den Betrieben als „radikaler Paradigmenwechsel“ empfunden werde. Schließlich gelte es, „eine Arbeitswelt zu schaffen, die ‘frei von Vorurteilen’ ist, wie es die Charta fordert, in der das Verhalten aller von ‘gegenseitigem Respekt’ geprägt ist und die auf ‘Einbeziehung’ basiert“. Tiefsitzende Überzeugungen müßten dabei aufgegeben werden. „Das klingt fast nach Kulturrevolution, nach einer Sisyphos-Aufgabe. Und das ist es auch“, resümiert einer der Autoren.

Wer ständig alle gewachsenen Ordnungen „dekonstruiert“ und eine nationale Leitkultur als „Deutschtümelei“ denunziert, darf sich über das ernüchternde Resultat nicht wundern: ein nihilistischer Werte-Relativismus, der sich selbst zum Götzen setzt.

Zu den in vielen Bereichen durchaus positiv zu bewertenden Aktivitäten, die die Herausgeber des neuen Magazins vorstellen, gehört als jüngstes Projekt des Daimler-Konzerns auch das „Gay Lesbian Bisexual Transgender Netzwerk“. Seine Aufgabe ist es, „den gesellschaftlichen Wandel im Konzern zu unterstützen, um die Potentiale aller heutigen und zukünftigen Mitarbeiter auszuschöpfen. Eines der Kernziele: bei allen Mitarbeitern das Bewußtsein für Gay Lesbian Bisexual Transgender als Selbstverständlichkeit im Arbeitsalltag zu entwickeln.“

Kaum mehr zu überblicken sind mittlerweile all die Initiativen, Arbeitskreise, Foren und Workshops für „Demokratie und Toleranz“, für „interreligiösen und interkulturellen Dialog“ – staatlicherseits ideell, zumeist auch finanziell gefördert. Doch das One world-Konzept, die erträumte staaten- und klassenlose Weltgesellschaft, bedarf zu seiner Verwirklichung auch einer außenpolitischen Komponente.

Von jeher setzen die Verfechter dieser Utopie ihre Hoffnungen daher in die USA, die von ihnen als Land der Freien und Gleichen idealisiert werden, in Wahrheit aber nach wie vor durch gravierende Klassen- und Rassengegensätze gekennzeichnet sind. Statt eines melting pot of nations, einer one world im Kleinen, haben sich auch in Nordamerika Parallelgesellschaften entwickelt, die die Einheit des Landes zunehmend in Frage stellen.

Von der Realität lassen sich Weltverbesserer indes nur selten beeindrucken. Als sei ein neuer Messias erschienen, hatte die Zeit die Wahl Barack Obamas bejubelt und ihn zum „Weltpräsidenten“ ausgerufen. Zuvor hatte Jan Ross der Hoffnung aller Liberalen und Linken beredt Ausdruck verliehen: „Obama könnte der erste Präsident eines ‘postamerikanischen Zeitalters’ werden. Auch dies, der Weg aus der provinziellen Egozentrik der Macht hinaus, wäre eine uramerikanische Möglichkeit, der Internationalismus eines schon im Innern ‘internationalen’, weil ethnisch, religiös und kulturell pluralistischen Gemeinwesens“ (Die Zeit, 1. Oktober 2008).

Bisher jedoch konnten diese Blütenträume nicht reifen. Schneller als gedacht, haben sich Obamas grandiose Reden und pompöse Visionen einer besseren Welt als heiße Luft entpuppt, auch wenn er als Vorschußlorbeeren den Friedensnobelpreis erhalten hat. Weder in der Innen- noch in der Außenpolitik ist er bisher der Lösung auch nur eines jener Probleme nähergekommen, die ihm sein Vorgänger Bush hinterließ. Von den USA können die Verfechter der One world-Konzeption somit zur Zeit keine große Hilfe erwarten. Um so intensiver verlegen sie sich auf Propaganda-Aktionen gegen jene Staaten, die der linksliberalen Beglückung den heftigsten Widerstand leisten und sich – auf der völkerrechtlich verbrieften nationalen Souveränität beharrend – jegliche Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten verbitten.

Besonders China haben die Kämpfer für „universelle Menschenrechte“ ins Visier genommen, weil es zum ernsthaftesten Herausforderer der Vereinigten Staaten von Amerika geworden ist. Obwohl nach jüngsten Umfragen drei Viertel aller Chinesen mit den gesellschaftlichen Zuständen in ihrer Heimat zufrieden sind und optimistisch in die Zukunft blicken (so das unabhängige US-Forschungsprojekt „Pew Global Attitudes“), wird eine verschwindende Minderheit westlich orientierter Dissidenten zu Kronzeugen einer finsteren Diktatur hochstilisiert.

Realitätsverlust ist noch stets der Halbbruder jeder Utopie gewesen. Auch in Deutschland dürfte die von der politischen Klasse be- und geförderte Ideologie zunehmend mit der Wirklichkeit kollidieren.

 

Peter Kuntze war von 1968 bis 1997 Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Wirtschafts- und Finanzkrise: „Kippt Deutschlands zweite Republik?“ (JF 28/09)

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