© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/09 30. Oktober 2009

Menschen an der Schwelle zum Krieg
Szenen aus den Hinterzimmern der Macht wie aus dem bürgerlichen Alltag in einer Collage um den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs
Sverre Schacht

War es ein Sommer der Liebe oder ein Sommer der Angst, fragen Mathias Haentjes und Nina Koshofer in ihrem 90minütigen Film „Sommer ’39“, der im August im Westdeutschen Rundfunk – leider nur im Spätprogramm – ausgestrahlt wurde. Der Zweite Weltkrieg als Katastrophe und Ausgangspunkt des modernen Europa steht im medialen Betrieb täglich zur Schau. Selten jedoch bemühen sich Autoren, Zeitgeschichte und individuelle Lebenserfahrungen in größerem Rahmen zusammenzubringen, Alltägliches und Staatsaktionen in ihrer Abhängigkeit anhand vieler Einzelschicksale zu beleuchten.

Dieses Ziel verfolgt der Autor und Dokumentarfilmer Werner Biermann, Jahrgang 1945, in seinem gleichnamigen Buch zum Film im wahrsten Sinne des Wortes eindrucksvoll. Kurze, tagebuchartige Sequenzen werfen die Frage nach den Chancen für die Liebe, für Freundschaften und das Leben an sich im Krieg ständig neu auf. Was Deutsche im Exil und in der Heimat von März bis Oktober 1939 mit Blick auf die Politik ahnten, dachten und fühlten, seziert der ehemalige Stern-Reporter Biermann mitunter gnadenlos: „26. August, Fulda. Der Rektor der Thalauer Volksschule, Wilm Hosenfeld, ist wieder Soldat. Der Stellungsbefehl, der ihn gestern überrascht hat, führt ihn schon heute nach Fulda, er bleibt also wenigstens bei seiner Familie. Ein Foto aus diesen Tagen zeigt den Feldwebel Hosenfeld plötzlich mit einem Bärtchen à la Hitler. (...) Gegen Oktober, mitten in Polen, wird Hosenfeld nicht nur den Bart ablegen.“

Anders als im vergleichbar dokumentarischen und vielbeachteten Buch „Menschenrauch“ des US-Amerikaners Nicholson Baker liegt der Fokus der Betrachtung bei „Sommer ’39“ weniger auf der exakten Wiedergabe von Dokumenten. Biermanns Werk gewinnt vor allem in seinen Alltagsszenen eine Nähe zum Leser, die manche notwendige Einfachheit bedingt durch die Komprimierung des historischen Stoffs aufwiegt. Weniger repräsentativ ist dagegen die Aussparung des Versailler Vertrags und der Weltwirtschaftskrise in ihren Folgen. Mit den Nachwirkungen der Weimarer Republik setzt sich Biermann gemäß seinem Titel-Schwerpunkt nicht lange auseinander, mit der Wirkung der NS-Propaganda um so mehr.

Vor allem bringt er sich selbst wertend ein, vertraut dabei mitunter zuwenig auf die Aussagekraft der originalen Zeugnisse aus der unmittelbaren Vorkriegszeit. Churchill erscheint als „abgehalfterter Politiker“, Hitler als „Bastard von Berchtesgaden“. Wo Zeitzeugen oder Dokumente fehlen, verdichtet der Autor selbst das Geschehen: „Charmant kann er ja sein, der Dr. Goebbels“, schreibt er beispielsweise über den Propagandaminister anläßlich der Geburtstagsfeier der berühmten Sängerin und Schauspielerin Zarah Leander. Unklar bleibt, ob das bis ins Ironische gedrehte Urteil dem Eindruck von Zeitgenossen oder dem Urteil des Autors entspricht. Ähnlich charakterisiert Biermann den prominenten Boxer Max Schmeling als „Nazi-Boxer“ und „Herrenmenschen“ – hier greift das Werk den „Sound“ der Epoche auf, „dennoch“ sei Schmeling „grundanständig“, so der Schriftsteller.

Trotz aller Professionalität verbreitet sich hier und da ein Hauch Geschichtswerkstatt: Erklärende und urteilende Elemente verschwimmen, der Wunsch, die „kleinen Leute“ sprechen zu lassen, verliert sich auch schon mal in jetztzeitigen Deutungen. Dennoch durchbricht das Panorama einseitige Schuldzuschreibungen – so für den März 1939: „Hitler betrachtet deswegen Polen noch als einen potentiellen Bündnispartner mit ‘soliden Gemeinsamkeiten’, nicht zuletzt, weil Polen ähnlich autoritär regiert wird und weil es in der polnischen wie in der deutschen Politik starke antikommunistische, antirussische und vor allem antisemitische Tendenzen gibt.“

Seinem Blick als Filmemacher bleibt der Autor in „Sommer ’39“ dagegen stets treu. Knappe, bildhafte Sätze dominieren. Kurze Rückblenden und Ausblicke vermitteln das zum Verständnis nötigste Wissen. Biermanns in zirka fünfzig Dokumentarfilmen geschulte Herangehensweise an historische Themen verleiht seiner Auswahl in „Sommer ’39“ eine starke Plastizität. Sein Ziel, möglichst unterschiedliche Leben am Vorabend des Krieges parallel zu montieren, glückt Biermann oft, wenn auch nicht immer. Mitunter wirken die Übergänge allzu hart, beispielsweise wenn auf kriegseinleitende und hochdramatische Szenen in Adolf Hitlers Reichskanzlei geradezu banale, da von der Dramatik der Zeit unberührte Sequenzen aus dem bäuerlichen Alltag deutscher Durchschnittsbürger folgen. Harte Übergänge sind zweifelsohne gewollt, unterbrechen allerdings auch den Spannungsbogen. Dennoch entsteht ein atmosphärisch dichtes Gesamtbild der Zeit.

Dem Leser verlangen die Sprünge ständig neue Einstiege und Perspektiven ab – hier der Exilschriftsteller in seiner materiellen Not, dort der Physiker mit Selbstmordgedanken angesichts der Tragweite eigenen Wissens um Atome und Kernspaltung, ein anderes Mal wieder beispielhafte NS-Karrieristen. Wer sich auf diese Art Dokumentation einläßt, den belohnt ein facettenreich gelungener Ausblick auf den Wendepunkt einer Epoche. Die aufbereitete Vielfalt der Erfahrungen läuft immer wieder auf schicksalhafte Bindeglieder hinaus. Biermann webt ein dichtes, spannungsgeladenes Netz um die Wochen vor dem Kriegsausbruch. Neuere Fragen der Wissenschaft zu seinem Sujet hat er dabei umfangreich eingearbeitet. So spürt er beispielsweise den Verstrickungen des Kennedy-Clans in die Appeasement-Politik nach. Den Schicksalen der Zwangssterilisierten gilt Biermanns besonderes Augenmerk.

In seiner Zielsetzung als breiten Leserschichten verständliches Stimmungsbarometer einer Epoche ist „Sommer 39“ zweifelsohne ein gelungenes Werk. Wer dagegen wenig bekannte geschichtliche Hintergründe sucht oder mehr in die Tiefe gehende Analysen erwartet, wird enttäuscht. So ist es nur konsequent, wenn der Adolf-Grimme-Preisträger seine Schau auf Gefühle und Erfahrungen gewöhnlicher bis außergewöhnlicher Menschen auch in Lesungen als musikalisch-literarische Revue vorstellt, denn Biermann geht es erkennbar um die Breitenwirkung. Sein Verdienst besteht darin, mit „Sommer ’39“ das Bewußtsein für die grausamen bis tragikomischen Verwerfungen einer Zeit wieder geweckt zu haben, die der Mehrheit der Deutschen heute nicht mehr bekannt ist.

Werner Biermann: Sommer ’39. Rowohlt Verlag, Berlin 2009, gebunden, 285 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro

Foto: Strandszene aus dem Sommer 1939: Hier und da verbreitet sich ein Hauch Geschichtswerkstatt

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