© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/09 30. Oktober 2009

Streit um soziale Standards
Chesterton contra Shaw
Georg Alois Oblinger

Was an Fernsehdebatten wie Anne Will und Johannes B. Kerner immer wieder nervt, ist die ungleiche Gewichtung der verschiedenen Positionen und die fehlende Unparteilichkeit der Moderatoren. Mitunter läßt sich ein Verfall der Debattenkultur auch daran beobachten, daß die Grundregeln des fairen Dialogs verletzt werden, wie beispielsweise das Ausredenlassen des Gegenübers und der Verzicht auf unsachliche oder verletzende Bemerkungen.

Im Jahr 1928 gab es noch eine gepflegte Debattenkultur. Davon kann sich der Leser anhand eines kleinen Bändchens überzeugen, das ein Streitgespräch zwischen Gilbert Keith Chesterton und George Bernard Shaw unter der Leitung von Hilaire Belloc wiedergibt. Es geht um die soziale Frage, die gerade heute durch die wirtschaftliche Krise und das Erscheinen der päpstlichen Enzyklika „Caritas in veritate“ wieder neue Aktualität erlangt hat.

Chesterton und Shaw haben sich damals mehrere Rededuelle geliefert, die dank der Eloquenz und der Originalität der beiden Kontrahenten beim Publikum großen Anklang fanden. Als Vertreter eines sozialistischen Standpunkts wurde Shaw eingeladen, seine Argumente mit denen von Chesterton, dem Begründer des Distributismus, auszutauschen. Unter Distributismus versteht Chesterton einen Mittelweg zwischen Kapitalismus und Sozialismus, der sich an der katholischen Soziallehre seit der Enzyklika „Rerum Novarum“ (1891) orientiert. Danach soll jeder in begrenztem Umfang über Privateigentum („ein Eigenheim, eine Kuh und drei Morgen Land“) verfügen, so daß ein gewisser Wohlstand garantiert sei, ohne dabei jener Gleichmacherei und Verstaatlichung zu verfallen, wie sie das sozialistische System anstrebt. Shaw fordert eine Verstaatlichung der Produktionsmittel und führt hierzu als Beispiel die Kohlebergwerke an. Chesterton stimmt in diesem Fall mit Shaw überein, betont aber, daß er hierin eine Ausnahme sehe, die der gesunde Menschenverstand fordere.

Hilaire Belloc ist ebenfalls Di­stributist, enthält sich jedoch als Diskussionsleiter jeglicher Meinungsäußerung. Chesterton und Shaw können somit eine faire Debatte austragen, bei der jeder die Argumente des anderen anhört und darauf eingeht. Gewürzt wird diese Diskussion durch Spontaneität, originelle Vergleiche und oftmals auch Ironie. Dagegen wirken Kerner, Maybrit Illner oder gar der saubere Michel Friedman als gouvernantenhafte Karikaturen.

Gilbert Keith Chesterton: Sind wir uns einig? Ein Streitgespräch mit Bernard Shaw nebst einigen Essays. Elsinor Verlag, Coesfeld 2009, broschiert, 118 Seiten, 12,90 Euro

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