© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/09 30. Oktober 2009

Ihr einziger Verbündeter war der Winter
Vor siebzig Jahren überfiel die Rote Armee Finnland / Überraschend zäher und erfolgreicher Widerstand gegen die Sowjets
Jan von Flocken

Am Morgen des 30. Oktober 1939 dröhnte der Himmel über den finnischen Städten Helsinki, Lahti und Hangö. Mehr als 400 sowjetische Bombenflugzeuge warfen hier ihre tödliche Last ab. Es dauerte lange, bis die Luftabwehr der Finnen reagieren konnte, denn der Angriff erfolgte überraschend, ohne vorherige Kriegserklärung. Zum zweiten Mal innerhalb von zehn Wochen hatte Stalins Rote Armee ein kleines Nachbarland überfallen. Diese Aggression wird bis heute als Marginalie des Zweiten Weltkriegs verdrängt.

Nach dem Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939, in dem das Baltikum zum sowjetischen „Interessengebiet“ erklärt wurde, setzte Moskau hier seine Politik mit aller Härte um. Gleich nach Ausbruch des Weltkriegs wurden die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen unter Androhung militärischer Gewalt zur Duldung sowjetischer Stützpunkte genötigt. Ein Jahr später folgte ihre Okkupation als „Sowjetrepubliken“. Finnland stand dasselbe Schicksal bevor. Wie zuvor begannen die Sowjets pro forma Verhandlungen, in denen sie unannehmbare Forderungen stellten. Auf deren Ablehnung folgte dann die militärische Aggression. Finnlands Außenminister hatte Anweisung, bei seinen Unterhandlungen in Moskau weitgehende Zugeständnisse zu machen. Die Errichtung sowjetischer Militärbasen sei jedoch abzulehnen. Dies nahm Außenkommissar Wjatscheslaw Molotow zum Vorwand, die diplomatischen Beziehungen abzubrechen. Bereits am folgenden Tag begann der Angriff.

Die Lage Finnlands schien hoffnungslos. Seine gesamte Streitmacht umfaßte 30.000 Mann, die Sowjets hatten mehr als 500.000 Soldaten zusammengezogen. 800 Flugzeugen der Roten Luftwaffe standen ganze 69 finnische gegenüber, bei den Panzern betrug das Verhältnis 750 zu 60. Aber die Sowjets machten einen entscheidenden Fehler. Statt an der 1.300 Kilometer langen Grenzfront einen operativen Schwerpunkt zu setzen, griffen sie im Bewußtsein ihrer erdrückenden Übermacht von fünf Stellen gleichzeitig an: am äußersten Norden bei Petsamo, im Mittelabschnitt bei Salla und Kuhmo, im Südosten zwischen Ladoga- und Onega-See sowie auf der Karelischen Landenge.

Finnlands Oberbefehlshaber Marschall Carl Gustav von Mannerheim nutzte die Verzettelung der Roten Armee geschickt aus. In den ersten Kriegstagen waren etliche seiner Soldaten in Panik vor den ungeheuren Panzermassen davongelaufen und hatten wertvolles Gelände preisgegeben. Doch schon nach einer Woche versteifte sich der finnische Widerstand. Es setzte sich jene Haltung durch, die in der Landessprache „Sisu“ genannt wird: unerschütterlicher Kampfesmut gepaart mit zähem Freiheitswillen. Um Männer für den Kampf freizubekommen, meldeten sich mehr als 100.000 Frauen zum Dienst in der Hilfsorganisation „Lotta Svärd“, halfen beim Sanitäts-, Transport- und Nachrichtenwesen.

Der sowjetische Angriff kam erstaunlich schnell ins Stocken. In dem unwegsamen verschneiten Waldgelände errangen die Finnen klare Vorteile. Ihre Reservisten waren gut ausgebildet für Kleinkrieg, Waldgefechte und Winterkampf. Die Rotarmisten lernten hier eine Taktik kennen, die ihnen schwerste Verluste zufügte. In einem Bericht heißt es: „Wenn es dunkel wurde und wir uns entlang der Straße frierend um die kleinen Lagerfeuer drängten, kamen die Finnen aus den Wäldern. Lautlos, in ihren weißen Schneehemden und in der Dunkelheit kaum sichtbar, glitten sie auf Skiern heran. Schüsse, Schreie, aufblitzende Detonationen von Handgranaten, brennende Fahrzeuge. Dann Stille. Lautlos und unsichtbar, wie sie gekommen waren, zogen sich die Patrouillen wieder in die Wälder zurück.“

Und noch etwas lehrte die Sowjets das Fürchten: die „Motti-“ (Kessel)-Taktik. Die Finnen nutzten die Abhängigkeit des motorisierten Feindes von den Straßen aus. Nachts blockierten sie den Weg vor und hinter den weit auseinandergezogenen einzelnen Truppenteilen. Diese konnten dann weder voran noch zurück und steckten bald im Motti. Hier wurden ihre Panzer und Lkw durch benzingefüllte Flaschen vernichtet, welche die Finnen spöttisch „Molotow-Cocktails“ nannten.

Klassisches Beispiel für die Motti-Taktik war die seit 11. Dezember 1939 losgebrochene Schlacht um Soumussalmi im Mittelabschnitt. Dort befand sich die „Finnische Taille“, der räumlich schmalste Weg zwischen Nord- und Südfinnland. Genau hier wollten die sowjetische 163. Infanteriedivision und die 4. motorisierte Division Richtung Schweden durchbrechen und das Land in zwei Teile zerschneiden. Der finnische Kommandeur im Mittelabschnitt, Oberst Hjalmar Siilasvuo, ließ die Russen tagelang in einer über fünfzig Kilometer langen Linie vormarschieren. Dann isolierte er den Feind systematisch in zwölf Mottis, die bis zum 5. Januar nacheinander zerschlagen wurden. Die Sowjets verloren 28.000 Tote und 1.300 Gefangene sowie sämtliche Panzer bis auf 50, die den Finnen als willkommene Beute dienten.

Die heftigsten Kämpfe tobten auf der Karelischen Landenge. Hier lag die strategisch bedeutende Stadt Viipuri (Wyborg), welche den nördlichen Zugang nach Leningrad beherrschte. Der Isthmus wurde durch leichte Befestigungen verteidigt, von den Sowjets „Mannerheim-Linie“ genannt. Tatsächlich handelte es sich um nur knapp 70 lose miteinander verbundene MG-Nester, an denen sich die Rote Armee blutige Köpfe holte. Der Verteidiger dieser Landenge, General Harald Öhquist, sagte: „Die Mannerheim-Linie – das ist der im Schnee stehende finnische Soldat.“

Anfang März 1940 begannen die Sowjets, deren personelle Stärke jetzt 1,5 Millionen Mann betrug, ihre dritte Großoffensive auf der Karelischen Landenge. Erstmals setzten sie hier die schweren Panzer vom Typ KW-I ein. Am 6. März standen sie vor den Toren von Viipuri, und Marschall Mannerheim mußte seine Regierung am folgenden Tag ersuchen, den Widerstand einzustellen. Das tapfere finnische Volk hatte einem übermächtigen Gegner fast 100 Tage standgehalten und dabei vergeblich auf Hilfe des Auslands gehofft. Finnland konnte durch den Winterkrieg 1939/40 seine staatliche Unabhängigkeit bewahren, mußte aber große Gebiete an die Sowjetunion abtreten. Als die Rote Armee in Viipuri einmarschierte, fand sie eine Gespensterkulisse vor. Sämtliche Einwohner hatten die Stadt verlassen.

Foto: Finnische Soldaten im Abwehrkampf gegen die Sowjets, Karelien 1939: 100 Tage standgehalten

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