© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/09 06. November 2009

Seit 64 Jahren totalitär geteilt
Korea: Ein Kollaps des Regimes im Norden kann jederzeit erfolgen – eine Wiedervereinigung wäre schwieriger als im Falle Deutschlands
Albrecht Rothacher

Die Waffenstillstandslinie entlang des 38. Breitengrades ist seit 1953 hermetisch mit Minenfeldern, Bunkern und Stacheldraht auf beiden Seiten verriegelt. Niemand kommt hier lebend durch. Aus Angst vor nordkoreanischen Kommandounternehmen ist auch die Küste des Südens noch weithin mit Wachttürmen und Drahtverhauen gesichert. Dennoch gelang seither mehr als 14.000 Koreanern die Flucht: über den im Winter gefrorenen Grenzfluß Amrokgang (Yalu/Ōryokkō) in die Mandschurei, von dort in monatelangen gefährlichen Durchschlagübungen über Drittländer wie die Mongolei und Vietnam oder ausländische Konsulate in den Süden. Jüngst hatte es eine Gruppe von neun Nordkoreanern bis nach Hanoi in die dänische Botschaft geschafft, von wo sie im Oktober nach langen Verhandlungen nach Seoul ausgeflogen wurden. Bei einer Auslieferung in den Norden hätte ihnen die meist tödliche Haft in Strafarbeitslagern oder die Hinrichtung geblüht, ihren Angehörigen bei Bekanntwerden die Sippenhaftung.

Die Tragödie der totalitären koreanischen Teilung dauert seit 64 Jahren an. Die Demarkationslinie zogen Sowjets und Amerikaner nach der Kapitulation des Japanischen Kaiserreiches, als sie dessen ehemalige Kolonie (seit 1910 Provinz Chōsen) widerstandslos besetzen konnten. Auch der mit einem Angriff des kommunistischen Nordens 1950 begonnene dreijährige Koreakrieg mit vier Millionen Toten änderte an der Waffenstillsstandslinie wenig.

Der Kalte Krieg, in dessen Verlauf der Norden vor Bombenattentaten auf das Kabinett (1983) und ein Korean-Air-Flugzeug (1987), Axtmorden in der demilitarisierten Zone, Selbstmordkommandos, Seegefechten und den Entführungen Hunderter Fischer nicht zurückschreckte, dauerte in Korea bis 1997. 1998 wurde der einstige Dissident Kim Dae-jung im Süden zum Präsidenten gewählt. Der Katholik dekretierte – mit Unterstützung von Chung Ju-yung, dem aus dem Norden stammenden Gründer der mächtigen Hyundai-Industriegruppe – eine Sonnenscheinpolitik nach dem Vorbild von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD). Es begannen massive Hilfslieferungen von Heizöl, Nahrungs- und Düngemitteln. Südkoreanische Investitionen in der Industriesonderzone Kaesong und Tourismusprojekte in den Diamantenbergen des Nordens folgten.

Kim Dae-jung verschloß die Augen vor den Grausamkeiten des Regimes, das in den neunziger Jahren schätzungsweise zwei Millionen Menschen verhungern ließ, während es ein Drittel seiner geschwächten Wirtschaftskraft in die 1,2-Millionen-Mann-Armee steckte und die Raketen- und Nuklearaufrüstung forcierte. Der Höhepunkt war Kim Dae-jungs Besuch in Pjöngjang im Jahr 2000, für den er den Friedensnobelpreis erhielt. Später stellte es sich heraus, daß der Norden sich für den Besuch 500 Millionen Dollar hatte zahlen lassen. Statt auf den „Wandel durch Annäherung“ zu reagieren, legte das Regime Kim Jong-ils die Freundlichkeiten und Zahlungen des Südens als Schwäche aus und brach alle Abmachungen und Versprechen der Abrüstung und Zusammenarbeit.

Ungeniert kündigte der „Geliebte Führer“ Kim Jong-il den Atomwaffensperrvertrag, warf die internationalen Atominspektoren aus dem Land, zündete unterirdische Atombomben, schoß Langstreckenraketen über Japan hinweg und suchte sein Wissen an „Schurkenstaaten“ im Nahen Osten meistbietend zu verkaufen. Auch Kim Dae-jungs Nachfolger Roh Moo-hyun versuchte ab 2003 die gescheiterte Sonnenscheinpolitik fortzusetzen. Er bot dem Norden einen Marshallplan über 20 Milliarden Dollar an, der die marode Verkehrs- und Energieinfrastruktur sanieren sollte. Sein Pjöngjang-Besuch 2007 erregte jedoch keinerlei Hoffnung mehr. Parteichef Kim Jong-il empfing ihn unwirsch, schien physisch bereits schwer angeschlagen und machte sich nicht die Mühe neuer Versprechungen.

Im Dezember 2007 wurde in Südkorea mit großer Mehrheit der konservative Lee Myung-bak zum Präsidenten gewählt. Er kündigte eine härtere Gangart gegenüber dem Norden an. Kim Jong-il und seine Generäle reagierten mit hysterischen Verwünschungen, ließen auf südkoreanische Touristen schießen und blockierten die Grenzübergänge und den Zugang zur Industriezone Kaesong. Südkorea stellte nach diesen Vertragsbrüchen seine Nahrungs- und Wirtschaftshilfen weitgehend ein. Der Westen und Japan hatten dies schon vorher getan. So wurde der Norden völlig von den Hilfslieferungen aus China abhängig.

Peking verwässert zwar regelmäßig die Uno-Sanktionen im Sicherheitsrat, macht sich aber über die nordkoreanische Klientel keine Illusionen. Auch chinesische Firmen haben dort unter Stromausfällen, Versorgungsengpässen und einer feindseligen Bürokratie zu leiden. Doch China erhofft sich im Gegenzug für Öl- und Reislieferungen den exklusiven Zugang zu den reichen Bodenschätzen: Gold, Silber, Uran, Mangan, Wolfram, Blei, Kohle, Eisenerz und Zink. Dies machte den Norden – auch dank umfangreicher japanischer Vorkriegsinvestitionen und Ausbildungsprogramme, die auch die koreanischen Feudalstrukturen beseitigten – bis in die sechziger Jahre viel reicher als den damals noch agrarisch-rückständigen und zudem kriegszerstörten Süden.

Zudem hatte China im Koreakrieg eine Million Mann geopfert, unter den Gefallenen war auch Maos Sohn Mao Anying. Peking möchte nicht, daß nach einem Regimewechsel in Pjöngjang US-Truppen am Yalu stehen und koreanische Flüchtlingsmassen in die Mandschurei (mit ihrer etwa zwei Millionen umfassenden koreanischen Minderheit) strömen. Nordkoreas Kinder erlernen in der Schule in der Regel zwar kein Chinesisch, aber etwa 2.000 chinesische Schriftzeichen (Hanja), was ein Zurechtfinden in den Weiten des Reiches der Mitte zumindest erleichtert. Solange die Atom- und Raketenpläne des Regimes nicht außer Kontrolle geraten, kann China mit dem Status quo gut leben.

Wie lange aber kann sich jene nach außen skurril wirkende, nach innen weiter tödliche stalinistische Despotie noch halten? Die Doktrinen des Marxismus-Leninismus hat das Regime längst durch die schlichte „Juche“-Autarkiedoktrin und den Personenkult um die Kim-Dynastie (die ähnlich wie die japanischen Kaiser auch die Jahreszählung bestimmt) ersetzt (JF 38/09). Das Regime stützt sich allein auf die Armeeführung und den Geheimdienst. Die „Partei der Arbeit“ und die Staatsbürokratie spielen keine Rolle mehr. Als personalisierte Diktatur hängt das Regime vom Herzschlag des 68jährigen Kim Jong-il ab, der unter Diabetes leidet, 2008 einen Schlaganfall erlitt und inzwischen an Magenkrebs erkrankt sein soll.

Während seiner monatelangen Abwesenheit führte Schwager Jang Song-thaek die Amtsgeschäfte. Nachfolger soll der jüngste Sohn Kim Jong-un (25) werden. Sollten Generalscliquen anderer Meinung sein, könnte der Zusammenbruch nach dem Abtritt Kims jederzeit stattfinden. Daß der Umbruch blutig wird, steht außer Zweifel. Es gibt in Nordkorea keine Dissidenten oder Kirchengemeinschaft, mit denen wie in Mittelosteuropa am Runden Tisch eine friedliche Übergabe verhandelt werden könnte. Bei der Entladung des spontanen Volkszorns drohen Mord und Totschlag.

Vor diesem Zusammenbruch hat auch der Süden Angst. Selbst gegenüber einer friedlichen Wiedervereinigung haben viele der sonst patriotischen Südkoreaner Vorbehalte. Die Teilung war noch länger und totaler als in Deutschland, ohne Besuchs- und Postverkehr, ohne Fernsehempfang. Nachrichten aus der Außenwelt gibt es nur durch Händler aus China. Obwohl beide Landesteile nach 1945 das von den Japanern unterdrückte koreanische Alphabet wiedereingeführt haben, hat sich das koreanische Volk sogar sprachlich auseinandergelebt.

Flüchtlinge, die es in den Süden schaffen, haben enorme Integrationsprobleme. An die Mangelwirtschaft gewöhnt und nur mit der Technik der fünfziger Jahre vertraut, kommen sie im Hochtechnologieland Südkorea nicht zurecht. Viele haben als Folge der Unterernährung Dauerkrankheiten und psychische Probleme. Dabei haben die Flüchtlinge Mut und Initiative bewiesen – wie erst mag es um den gehirngewaschenen Rest der Daheimgebliebenen bestellt sein?

Nordkorea ist viel stärker abgewirtschaftet als die einstige DDR. Mit 22 Millionen Einwohnern gegenüber Südkorea mit seinen 45 Millionen ergäbe das ein Transferverhältnis von 1:2 in Korea statt 1:4 wie in Deutschland. Südkorea ist noch immer ärmer an Volkseinkommen als Westdeutschland anno 1989. Transferzahlungen in dem Umfang, wie sie bislang von West- nach Mitteldeutschland geflossen sind, würden sich auf 400 Prozent der koreanischen Jahreswirtschaftsleistung summieren. Zudem hat Südkorea ein Strukturproblem, da es industriepolitisch zwischen dem Spitzentechnologieland Japan und dem nach mittleren Technologien strebenden China als übermächtigen Wettbewerbern eingezwängt ist. Eine zusätzliche Armee ungelernter Hilfsarbeiter und Kolchosbauern aus dem Norden hilft da wenig – warnen die Skeptiker, die in der öffentlichen Meinung Südkoreas derzeit die Oberhand haben.

Tatsächlich könnte aber die Vaterlandsliebe der Koreaner Berge versetzen. Die Aussicht auf eine Wiedervereinigung und das Ende der militärischen Bedrohung aus dem Norden dürfte in dem nationalstolzen, fleißigen und emotionalen Land – anders als in Deutschland – einen enormen Leistungs- und Motivationsschub auslösen. Zweifellos stellt der Norden einen in jeder Hinsicht ungesättigten Markt dar, der in der aktuellen Krise nicht nur die Überproduktion des Südens aufnehmen könnte. Im Erfolgsfall könnte das vereinigte rohstoffreiche Korea mit seinen 67 Millionen Einwohnern – wie Goldman Sachs jüngst prognostizierte – bis zum Jahr 2050 sogar die japanische Wirtschaft einholen.

 

Dr. Albrecht Rothacher ist Japanologe und Asienexperte. Er ist Autor von Büchern wie „Corporate Globalization: Business Cultures in Asia and Europe“ (Times Academic Press 2005) und „Die Rückkehr der Samurai. Japans Wirtschaft nach der Krise“ (Springer Verlag 2007).

Foto: Todesstreifen und entmilitarisierte Zone zwischen Nord- und Südkorea: Ohne die Hilfe aus China wäre das Regime in Pjöngjang am Ende

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