© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/09 06. November 2009

Kein Schriftsteller entflieht seinem Vaterland
Pathos der Freiheit: Nach 250 Jahren hat Friedrich Schiller immer noch viel über die deutsche Gegenwart zu sagen
Thorsten Hinz

Es ist von hintergründiger Symbolik, daß Friedrich Schiller vor 250 Jahren an einem 10. November und damit nahe dem späteren deutschen Schicksalstag geboren wurde. Die minimale zeitliche Differenz steht für die souveräne Distanz, aus der heraus ihm die Reflexion über das nationale Schicksal möglich war.

Lange wurde Schiller in einem unmittelbar politischen Sinne als Nationaldichter betrachtet. Unter großer öffentlicher Anteilnahme wurden 1859 landesweit, von Holstein bis Triest, zu seinem hundertsten Geburtstag Schiller-Feiern ausgerichtet. Im Bekenntnis zu dem Dichter manifestierte sich das Einigungsstreben, das 1848 zusammen mit der bürgerlichen Revolution abgewürgt worden war. Zu seinen Ehren wurden zahlreiche Denkmäler errichtet: das erste 1839 in Stuttgart, 1857 das Doppelstandbild Schillers und Goethes in Weimar, Statuen in Mannheim und Mainz (1862), München (1863), Frankfurt am Main, Hannover und Hamburg (alle 1864) folgten.

Schillers nationales Pathos wirkte zeitlos, weil es stets mit dem Pathos der Freiheit verbunden war. Zudem dachte Schiller – wie die deutschen Klassiker überhaupt – in großen Dimensionen: räumlich, zeitlich, konzeptionell. Er hielt es für „ein armseliges, kleinliches Ideal, für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geiste ist diese Grenze durchaus unerträglich. Dieser kann bei einer so wandelbaren zufälligen und willkürlichen Form der Menschheit nicht, bei einem Fragmente (und was ist die wichtigste Nation anderes?) nicht stillestehen.“

Auch in seiner akademischen Antrittsrede „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ fordert er 1789 dazu auf, die Welt künftig als ein Ganzes zu betrachten. Gleichwohl stand es für ihn außer Frage, daß die Wirkungsmacht der europäisch-christlichen Welt „das wichtigste Faktum der Weltgeschichte“ war. Eine Globalisierung der Geschichtsbetrachtung konnte er sich nur als ein behutsames Fortschreiten vorstellen, denn eine „vorschnelle Anwendung dieses großen Maßes könnte den Geschichtsforscher leicht in Versuchung führen, den Begebenheiten Gewalt anzutun und diese glückliche Epoche für die Weltgeschichte immer weiter zu entfernen, indem er sie beschleunigen will“.

Auf absehbare Zeit blieben das eigene Land und die eigene Kultur eine notwendige Bezugsgröße, die sich nicht überspringen ließ. 1791 schrieb er in einem Brief an seinen Freund Gottfried Körner: „Kein Schriftsteller, so sehr er auch an Gesinnung Weltbürger sein mag, wird in der Vorstellungsart seinem Vaterland entfliehen. Wäre es auch nur die Sprache, die ihn stempelt, so wäre diese allein genug, ihn in eine gewisse Form einzuschränken und seinem Produkt eine nationelle Eigentümlichkeit zu geben. Wählte er aber nun einen auswärtigen Gegenstand, so würde der Stoff mit der Darstellung immer in einem gewissen Widerspruche stehen, da im Gegenteil bei einem vaterländischen Stoffe Inhalt und Form schon in einer natürlichen Verwandschaft stehen.“

Solche Sätze bezeichnen heute die Penetranz der deutschen Berufs- oder Bekenntniseuropäer, die von den feineren Nuancen und Differenzen der eigenen wie der europäischen Kulturen nichts wissen und deswegen nur indiskret und vulgär wirken.

Im Gedichtfragment „Deutsche Größe“, das parallel zum Zusammenbruch des alten Kaiserreichs am Beginn des 19. Jahrhunderts entstand, unterscheidet Schiller klar zwischen dem deutschen Geist und den politischen Realitäten: „Abgesondert von dem politischen hat der Deutsche sich seinen eigenen Wert gegründet, und wenn auch das Imperium unterginge, so bliebe die deutsche Würde unangefochten.“

Aber wie lange konnte dieser Grundsatz noch gültig bleiben im Zeitalter der Nationalstaaten, in dem – laut Napoleon – die Politik das Schicksal war? Letztlich kreist auch Schiller um die Frage, wie die Deutschen, die durch Sprache, Geschichte, Kultur und geographische Lage aufeinander verwiesen waren, auskömmlich für sich und andere ihr staatliches Leben organisieren konnten.

Es war aus der Not geboren und Ausdruck einer deutschen Misere, daß fast alle großen Staatsdramen Schillers im Ausland spielen: der „Fiesco“ in Italien, „Don Karlos“ in Spanien, „Die Jungfrau von Orleans“ in Frankreich, der „Wilhelm Tell“ in der Schweiz, „Maria Stuart“ in England, das „Demetrius“-Fragment in Rußland. Einzig „Wallenstein“ spielt in Deutschland, und groß waren die Mühen der Idealisierung, die sein Dramenheld Schiller abnötigte.

Wie stark er an der deutschen Kleinstaaterei litt, läßt sich seinem aufrührerischen Jugendwerk „Kabale und Liebe“ entnehmen. Der Duodez-Fürst verkauft Tausende Landeskinder als Soldaten an eine fremde Macht, um seine Mätresse zu finanzieren. Statt Bösewichter von Shakespearescher Dimension gibt es nur deformierte Kleinkrämer, wie sie im Krähwinkel erblühen. Der übelste ist ein Kanzlist namens Wurm: ein Mann bürgerlicher Herkunft, dessen Bürgerstolz aber vollständig gebrochen ist und der nun mit zynischer Verschlagenheit seine Intelligenz in den Dienst der Macht stellt.

In der DDR wurde Schiller nochmals als „Dichter der Nation“ in Anspruch genommen und – solange die SED offiziell die deutsche Wiedervereinigung anstrebte – gegen die „Bonner Spalter“ in Stellung gebracht. Heute drängt sich die Frage auf, ob die deutsche Klein- bzw. Teilstaaterei 1989/90 wirklich überwunden wurde oder ob sich nicht bloß die Deformationen des größeren Teilstaats über die des kleineren gewälzt haben, mit dem Ergebnis, daß das heutige Deutschland sich nicht als „Fragment“ einer höheren Ordnung, sondern als deren Treibsand versteht.

Die zu grüßenden Gessler-Hüte, gegen die Schillers Tell einst aufbegehrte, jedenfalls sind in neuer Aufmachung zurückgekehrt und vermehren sich im atemberaubenden Tempo. Unter diesen Umständen schrumpft die „Gedankenfreiheit“, die Schiller im „Don Karlos“ weltberühmt und zitatfähig forderte, zur privaten Konfession bzw. zum Privileg gesellschaftlicher Parias. Ahnungslose Landeskinder werden nach Afghanistan verschickt, jetzt nicht mehr aus willkürlicher Fürstenlaune heraus, sondern parlamentarisch legitimiert und unter dem Zwang einer unhinterfragbaren Bündnisräson. Und der Intrigant Wurm – verkörpert er nicht die Essenz des modernen Journalisten und Intellektuellen überhaupt: immer bereit zum Fallenlegen und zur Rudeljagd?

Die Beschäftigung mit Schiller und der Abgleich seines Werks mit der Gegenwart verspricht also kaum Erbauung, dafür viel Enttäuschung oder – je nach Temperament – eine enorme Herausforderung.

Foto: Friedrich Schiller auf dem Zehn-Mark-Schein der DDR (1964): Gegen Clara Zetkin ausgetauscht

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