© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/09 06. November 2009

„Dich gibt’s zu oft“
Tanz auf allen Hochzeiten: Hans Magnus Enzensberger zum achtzigsten Geburtstag
Ulrich Schneider

Er ist der Zwillingsbruder von Jürgen Habermas: Hans Magnus Enzensberger. Wie jener Flakhelfer-Jahrgang 1929, aus gutbürgerlichem Haus, Hitlerjugend, ebenso Reichsverteidiger der letzten Stunde, Nachkriegsgewinnler mit vergleichbar chronischer Resonanz, seit über fünfzig Jahren Gewissensverwalter, Eckpfeiler der Suhrkamp-Kultur, Galionsfigur gelungener Umerziehung.

Der in Kaufbeuren geborene und in Nürnberg aufgewachsene Enzensberger, für dessen Ehrentag am 11. November unsere feuilletonistischen Feuerwerker einiges abbrennen werden, läßt sich zwar nicht als geistige „Weltmacht“ (Die Zeit) wie Sankt Jürgen verkaufen, aber der vielgereiste, polyglotte Literat mit dem Faible fürs Hispanische, der „deutsche Cubaner“, Fließband-Lyriker, Essayist, Übersetzer, Editor, Vor- und Nachwortführer, besetzt im Vergleich mit so typisch deutschen Knörzerichen wie Günter Grass den kosmopolitischen Part derart überzeugend, daß er als konkurrenzloser Repräsentant dessen zu gelten hat, was unserer politischen Kaste in ihren Sonntagsreden als „Weltoffenheit“ vielleicht vorschweben mag.

Das Bemerkenswerteste an Enzensbergers Autorschaft ist die seit Jahrzehnten ungebrochene Akzeptanz, auf die jedes seiner Erzeugnisse rechnen darf. Das war nur in den Anfangsjahren anders, als die ersten Lyrik-Bändchen („verteidigung der wölfe“, 1957, „landessprache“, 1960, und „blindschrift“, 1964) noch das Mißfallen der westentragenden, zigarrenpaffenden Herrenreiter-Kritiker vom Schlage Sieburg&Holthusen erregten, die in solcher politisch ambitionierten Poeterei nur fingerfertiges Epigonentum im Fahrwasser von Brecht und Benn erkennen wollten. Fundamentale Ablehnung erfuhr der hoffnungsvolle Autor indes allein durch den nachmaligen „Entlarver“ der „Kriminalgeschichte des Christentums“, Karlheinz Deschner, der eine noch heute lesenswerte De-Luxe-Hinrichtung des von Alfred Andersch, Walter Jens und Martin Walser gleichermaßen protegierten „zornigen jungen Mannes“ wagte („Talente, Dichter, Dilettanten“, 1964).

Deschner deutete aber viele Schwachstellen im Frühwerk nur an, und er vermied es, die Frage zu stellen, warum ein von ihm als Schaumschläger und Dilettant eingestufter Skribent sofort von seiner Feder auskömmlich leben konnte; warum ihm 1963, allein aufgrund von zwei Gedichtkladden und ein paar „aufklärerischen“ Essays, etwa über „Die Sprache des Spiegel“ oder einer die FAZ aufs Korn nehmenden Analyse („Beschreibung einer Allgemeinen Zeitung für Deutschland“), der Büchner-Preis verliehen wurde; warum ihn die Rundfunkhäuser landauf, landab mit Aufträgen überschütteten und ihm alle relevanten Zeitungen und Zeitschriften offenstanden.

Und dies alles, wohlgemerkt, obwohl Enzensberger, inspiriert von Adorno, als „Gesellschaftskritiker“ angetreten war, die „Herrschaftsapparate“, vorzugsweise deren „Bewußtseins-Industrie“ zu destabilisieren. Trotzdem war dieser erklärte Systemveränderer als linksliberaler Medienliebling jederzeit Fleisch vom Fleische dieses Systems. Damit war zugleich auszumachen, was sich seither wie ein roter Faden durch Leben und Werk diese Vorzeigeintellektuellen zieht. Sehr im Gegensatz zu der heute nirgends in der stattlichen Sekundärliteratur über den omnipräsenten Vielschreiber fehlenden, so stereotypen wie falschen Behauptung, er wechsle seine ästhetisch-politischen Positionen wie seine Hemden, ist nämlich unbestreitbar, daß es eine Konstante seines Schaffens gibt: sein Opportunismus, sein nahezu geniales Gespür für das Angesagte, die Witterung für die Bedürfnisse des Zeitgeistes.

Das bis heute kaum modernisierte Equipment für seinen Tanz auf allen Hochzeiten erhielt der 1956 über „Brentanos Poetik“ promovierte Germanist nicht an seiner Erlanger Heimatuniversität, sondern bei „Max und Teddy“ in Frankfurt. Im Kern war dies bereits der dritte, spätweimarer Aufguß der marxistischen Entfremdungstheorie. Einmal verinnerlicht, ließ sich aber dauerhaft von der Adorno-Horkheimer-Ration zehren. Seitdem rattert der Webstuhl: gehorcht dem Klipp-Klapp vom „wahren“ und „falschen“ Leben, „richtigen“ und „falschen“ Bewußtsein, von „kapitalistischer Verdinglichung“ und ihrer sozialistischen „Aufhebung“, gehorcht diesen tristen Schemata, als böten sie Enzensberger den Universalschlüssel zur Lösung aller Welträtsel. Nicht zu vergessen natürlich einer der Dauerbrenner Adornos, das „negativ-antizipierende Kunstwerk“, das man, auf der ewigen Wache der Kritik stehend, unermüdlich produziert, während an anderen Schreibtischen schandbar „Affirmatives“ Verblendungszusammenhänge stiftet.

Auf diese Weise inszeniert sich ein kopeister schießender Konformismus, der sich hartnäckig als „Nonkonformismus“ geriert, ein schäumender Lippendienst, dem kein Klischee zu abgegriffen ist, einerlei, ob Enzensberger über die „Restauration“, den „alten und neuen Faschismus“, „Wiederaufrüstung“, drohenden „Nukleartod“ oder die Bonner „Notstandgesetze“ lamentiert oder über die „kleinbürgerliche Hölle“, die der „Konsumterror“ den „Massen“ in ihrem „Lämmerdasein“ bereite. Ausgemacht und bar jeder Explikation ist in diesem nicht enden wollenden Gezetere gegen das „Establishment“, daß „das Bestehende“ stets „das Schlechte“ ist. Wohl nicht zufällig prägten sich in Enzensbergers Physiognomie früh feminine Züge aus, rollengerecht für einen als Klageweib reüssierenden Dichtersmann. Im tausendstimmigen Gemurmel hebt er sich schon vor 1968 kaum noch durch irgendeine originelle Zeile heraus, so daß das von ihm auf die verachteten „Kleinbürger“ gemünzte Diktum auf seinen Urheber zurückfällt: „Dich gibt’s zu oft“.

Variiert, nicht substantiell verändert, hat Enzensberger seine ideologischen Axiome nur zweimal: zwischen 1965 und 1974, als – von Götz Aly unlängst mit ein paar 68er-Döntjes der Lächerlichkeit preisgegebener – umstürzlerischer Herausgeber des Kursbuchs und nach dem Zerplatzen der revolutionären Illusionen, seitdem ungebrochen bis heute, als zart skeptischer, milde geschichtspessimistischer Altlinker, der in „Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts“, die das Versepos „Mausoleum“ (1975) füllen, von den steilsten Weltverbesserungsphantasmen Abschied nahm.

Im „Mausoleum“, im „Untergang der Titanic“ (1978), in den „Politischen Brosamen“ (1982), ausgestreut zuerst in der von ihm 1980 gegründeten Zeitschrift TransAtlantik, trifft er dann den typischen Sound, das irgendwie immer witzig sein wollende Parlando, mit dem der „Dandy der bundesdeutsche Linken“, der „literarische Delikatessenhändler“ und „Harlekin“, seine „Gemeinde“ und seine feuilletonistischen Gesinnungsfreunde inzwischen alt geworden sind.

Sein „Engagement“ zielte dabei nie wieder auf „Systemopposition“, aber die von den „Frankfurtern“ eingebimste Weltsicht verliert nie ihre Orientierungskraft. Nur kurzzeitig 1989/90 durch den Mauerfall irritiert, tummelte sich der smarte Enzensberger seit dem ersten Irak-Krieg (1991) und „Hoyerswerda/Rostock/Mölln“ wieder in allen Gazetten des Spiegel/Zeit-Spektrums, keine Platitüde verschmähend, um uns alle einfältigst zu „Ausländern“ oder „Migranten“ umzutaufen („Die Große Wanderung“, 1992) und zeitig den „Kampf gegen Rechts“ zu eröffnen („Aussichten auf den Bürgerkrieg“, 1993).

Das Gängige und Windschnittige des zum 70. Geburtstag 1999 mit einem dickleibigen biographischen Dithyrambus Geehrten (selbstredend vom Zeit-Redakteur Jörg Lau), die penetrante Manier, uns nicht zu verheimlichen, was wir alle schon wissen, egal ob es um „Zuwanderung“ oder genetische Visionen (pünktlich zum Human-Genom-Projekt geliefert: „Die Elixiere der Wissenschaft“, 2002), oder zuletzt um die deutschen „Eliten“ im Dritten Reich („Hammerstein oder Der Eigensinn“, JF 12/08) geht: seit langem sind das nur noch Beiträge zum Denkmal seiner selbst.

Foto: Hans Magnus Enzensberger: Denkmal seiner selbst

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