© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/09 06. November 2009

Das Soziale wird zum Gottesersatz
Der Medienwissenschaftler Norbert Bolz formuliert eine scharfe Analyse des alle Politikfelder dominierenden Egalitarismus
Thorsten Hinz

Mit diesem Buch wird der kleine Klub deutscher Professoren, die bei der Benennung und Analyse brennender Zeitfragen aufrecht und nicht in gebückter Haltung die Arena betreten, ein wenig größer. Der Medienwissenschaftler Norbert Bolz unternimmt einen Sturmlauf gegen die politische Korrektheit und eine Tiefenanalyse unserer kranken Gesellschaft. Seinen „Diskurs über die Ungleichheit“ nennt er einen „Anti-Rousseau“, weil er in dem französischen Aufklärer das „Idol des Egalitarismus“ erkennt, jener mächtigen Strömung, die der Freiheit im Namen der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit sukzessive den Garaus macht.

Der eigentliche Beweger der modernen Massendemokratie, so ist Bolz zu verstehen, ist nicht das Streben nach Freiheit, sondern eine immer aggressivere Skandalisierung der Ungleichheit. Er stützt sich auf Tocqueville, der in seinem Amerika-Buch einen „demokratischen Despotismus“ konstatierte, welcher das Herrschaftsinteresse gut artikulierter Minderheiten mit den Instinkten und Bedürfnissen der Masse zusammenbindet. Dieser Despotismus stellt eine „gewaltige, bevormundende Macht“ dar, die den Menschen im Zustand der Infantilität beläßt. Herrschaft bedeutet in der Massendemokratie die Betreuung von Unmündigen, die – wie von Dostojewski in der Parabel vom Großinquisitor geschildert – das Brot aus den Händen der Obrigkeit um so dankbarer empfangen, weil jene ihnen die Daseinsvorsorge und existentielle Zweifel abnimmt.

Doch was verteilt wird, muß zuvor anderen abgenommen werden. An dieser Stelle tritt die Umverteilungsmaschinerie des Sozialstaats auf den Plan, dessen Erfordernisse alle Bereiche des gesellschaftlichen und politischen Lebens durchdringen. Schon vor über 50 Jahren sagte Verfassungsrichter Gerhard Leibholz zum Widerstreit zwischen den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit: „Die Gleichheit bedarf der Freiheit nur insofern, als und soweit sie mit ihrer Hilfe ein höheres Maß von Gleichheit sichern kann.“ Ihr wirksamstes Mittel ist die „Sprachpolitik der politischen Korrektheit“, die „unmittelbar anknüpfen (kann) an Rousseaus Begriff der Zensur als Sprachregelung. Der Wille des Volkes will immer das Richtige, kann es aber nicht sagen und braucht deshalb einen Dolmetscher.“

Diese Dolmetscher sind heute die Linksintellektuellen, die geboren sind „aus dem Haß auf den erfolgreichen Bürger“ und in Universitäten und im Medienbetrieb unangreifbar verbunkert sind. Der Neid, der sie treibt und den sie in die Gesellschaft tragen, ist von der unschöpferischen Sorte, das heißt, er fordert nicht mehr zu eigenen Anstrengungen auf, sondern macht Ansprüche auf Umverteilung geltend. Immer neue Diskriminierungsbereiche und Gruppen von Benachteiligten werden ausfindig gemacht und von der Betreuungsindustrie bearbeitet. Das Soziale wird zum „Gottesersatz“.

In der Klage über Benachteiligungen macht sich die Nichtakzeptanz der natürlichen Unterschiede Luft. Der Rechtsstaat garantiert die Gleichheit der Ungleichen vor dem Gesetz und beläßt im übrigen die Individuen in ihrer Unterschiedlichkeit. Aus dem Spannungsverhältnis zwischen ihnen ergibt sich die politische, soziale, wirtschaftliche und intellektuelle Dynamik. Der Umverteilungsstaat aber will die Unterschiede nivellieren, als da zum Beispiel wären: die Unterschiede zwischen Reichen und Armen, Klugen und Dummen, Schönen und Häßlichen, Frauen und Männern.

Bolz dekliniert den „egalitaristischen Populismus“, der von den Medien befeuert wird, in den verschiedenen Bereichen durch. Leistungsschwache Schüler, deren Versagen ausschließlich auf soziale Benachteiligung zurückgeführt und deren Intelligenzquotient tabuisiert wird, werden so vor einer realistischen Selbstwahrnehmung geschützt. Schließlich wird der Bildungsanspruch gesenkt und dadurch effektiv der Leistungsstarke benachteiligt. Langfristig hat der Egalitarismus für das gesellschaftliche Gefüge destruktive Folgen, weil, wie der Philosoph Leibnitz sagte, bestimmte Güter gleich kostbaren Fresken existieren, die „man wohl zerstören, aber nicht wegnehmen kann“. Mit besonderer Verve geht Bolz den radikalen Feminismus und sein „unstilisiertes Geschlechterverhältnis“ an. Er interpretiert ihn als Aufbäumen gegen die Biologie als Schicksal. „Sobald nämlich Kinder kommen, wird die Geschlechterdifferenz unabweisbar. Deshalb ist die Abtreibung ein Sakrament des fanatischen Feminismus.“

Eine neue „Tapferkeit der Bürgerlichkeit“ sei nötig. Bolz’ Gewährsmänner heißen unter anderem Forsthoff, Gehlen, Nietzsche, Schmitt und Weber. Dagegen billigt er Jürgen Habermas lediglich intelligente Verschlagenheit zu.

Der Text erhebt keinen Anspruch auf Ausgewogenheit – zum Glück nicht. Die Gerechtigkeitsfrage hält Bolz für unlösbar bzw. nur durch Kompromisse zu beantworten, die ein „sorgender Kapitalismus“ bereitstellt. Wem das zuwenig ist, der soll Besseres vorschlagen. Bolz hat ein Traktat zum Informieren, Anregen, zum Nachschlagen und zum Weiterdenken vorgelegt.

Norbert Bolz: Diskurs über die Ungleichheit. Ein Anti-Rousseau. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2009, broschiert, 207 Seiten, 16,90 Euro

Foto: Protest gegen Hartz IV zur Bundestagswahl 2009 in Frankfurt/Main: Gerechtigkeit als Kampfbegriff

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen