© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/09 13. November 2009

9. November 1989
Die Welt schaute auf uns
Dieter Stein

Montagabend vor dem Brandenburger Tor. In strömendem Regen stehen Zehntausende Bürger und harren stundenlang in eisiger Kälte aus. Mit einem „Fest der Freiheit“ begeht die deutsche Hauptstadt den 20. Jahrestag des Mauerfalls. Ich habe meinen ältesten Sohn (7) an der Hand und zwänge mich am Potsdamer Platz durch die dichten Reihen. Der Jahrestag ist eine der ersten Gelegenheiten, ihn mit deutscher Geschichte vertraut zu machen. Am Vortag waren wir in der Bernauer Straße gewesen. Die Mauer-Gedenkstätte erweist sich pädagogisch als sehr beeindruckend. Allein die Wirkung des Abschnitts der meterhohen Originalmauer ist mächtig.

Die Fragen sprudeln aus dem kleinen Jungen nur so heraus: Papa, warum wurde die Mauer gebaut? Warum war Deutschland geteilt? Warum hast du auf der einen Seite der Mauer gelebt und Mama auf der anderen Seite? Zunächst werden die bunten Styropormauersteine noch als „nicht so interessant“ abgetan. Doch die Dominosteine als Allegorie auf den Mauerfall sind eine schöne Idee, und gerade die kleinen Zuschauer, von denen mancher an seiner Schule mithelfen durfte, die Mauerstücke bunt zu bemalen, und die sich nun abends an den Gittern drängen, sind davon fasziniert.

Es sind zu einem erheblichen Teil ausländische Gäste aus aller Herren Länder, die zusammengeströmt sind, um das Glück der Deutschen an ihrer vor zwanzig Jahren wiedergewonnenen Freiheit zu teilen. Um uns herum hören wir Italienisch, Polnisch, Spanisch. Es herrscht eine gelöste, herzliche Stimmung. Es ist spürbar: Der Mauerfall wird inzwischen als Symbol nicht nur der befreiten Deutschen, sondern eines befreiten Kontinents verstanden. Der französische Figaro macht an diesem Tag mit einer Titelseite auf, die ein riesiges Bild von einem Mauerdurchbruch mit darauf sitzenden jubelnden Deutschen zeigt, daneben die Schlagzeile: „Der Tod des Kommunismus“.

Vielen ist wahrscheinlich gar nicht bewußt, welche unausgeschöpfte Chance der 9. November 1989 ist, um das Bild Deutschlands nach außen dauerhaft zu verändern und die Identität eines neurotisierten Volkes wieder aufzurichten. Der 9. November ist vor allem eines: eine wunderbare Heldengeschichte! Und er kennt nicht nur einige wenige, sondern Hunderttausende von Helden, die den Mut hatten, die Mauer von Osten einzudrücken, und die Millionen, die den Glauben an Freiheit und Einheit nicht aufgegeben hatten.

Es ist beeindruckend, welchen Anteil ausländische Regierungen und Medien an diesem Ereignis zeigten und welchen Respekt sie den Deutschen zollten. Sie erlebten eine fröhliche, ausgelassene Stadt. Begeisterte Polen fielen mit ihren mitgeführten Fahnen übrigens allein deshalb auf, weil praktisch keine deutschen zu sehen waren. Und nicht wenige ausländische Besucher haben sich gewundert, weshalb im Land von Goethe und Beethoven an einem solchen nationalen Feiertag englische Lieder der Freude Ausdruck zu verleihen haben. Die obendrein vergessene Nationalhymne sang ich meinem Sohn zum Ausgleich auf der Rückfahrt im Auto selber vor.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen