© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/09 20. November 2009

Verbrechen gegen Moral und Demokratie
Großbritannien: Heftiger Streit um Labour-Strategien für die Massenzuwanderung ins Vereinigte Königreich
Michael Wiesberg

Eine derart heftige Diskussion über die Massenzuwanderung nach Großbritannien hat es wohl seit der „Ströme von Blut“-Rede des konservativen Politikers Enoch Powell im April 1968 (JF 47/05) nicht mehr gegeben: Auslöser war der Fernsehauftritt von Labour-Justizminister Jack Straw, von 1997 bis 2001 Innenminister der Regierung Blair, in der BBC-Diskussionssendung „Question Time“ am 22. Oktober. Viermal vermied es Straw dort, auf die Frage, ob die Erfolge der rechten British National Party (BNP) ein Ergebnis fehlgeleiteter Zuwanderungspolitik seien, direkt zu antworten. Dem Schlag ins Kontor jedweder Labour-Glaubwürdigkeit setzte der frühere Berater und Redenschreiber von Tony Blair, Andrew Neather, dann einen Tag später im London Evening Standard noch einen drauf.

Demzufolge habe die Regierung Blair unter fadenscheinigen Hinweisen auf die vielfältigen ökonomischen Vorteile der Masseneinwanderung Tür und Tor geöffnet und dabei insgeheim die Strategie verfolgt, Großbritannien zu multikulturalisieren. Den Rechten sollte die „diversity“ („Vielfalt“) unter die Nase gerieben und ihre Argumente als „überholt“ entlarvt werden.

Als Instrument diente Labour die im Januar 2001 vom Innenministerium veröffentlichte Studie mit dem Titel „Migration: An Economic and Social Analysis“, die unter Mitwirkung der Labour-Denkfabrik Performance und Innovation Unit (PIU) entstand und die Zukunft eines multikulturellen Britanniens in rosaroten Farben malte.

Leitmotivisch zitiert die Studie in der Einleitung Tony Blair, der auf dem Davos-Gipfel im Januar 2000 erklärte: „Wir haben in diesem Jahrhundert die Chance, eine offene Welt zu erreichen, eine offene Wirtschaft und eine Weltgesellschaft mit nie dagewesenen Möglichkeiten für Menschen und Geschäfte.“ Auf Seite zehn der Studie wird dann festgestellt: „Es gibt kaum einen Hinweis darauf, daß heimische Arbeitnehmer durch Zuwanderung beeinträchtigt werden könnten. Es gibt beachtliche Indizien zur Erhärtung des Standpunkts, daß Zuwanderung neue Geschäftsfelder erschließt, Arbeitsplätze schafft, Lücken auf dem Arbeitsmarkt zu schließen in der Lage ist, die Produktivität verbessert und den Inflationsdruck mindert.“

Als Haupthindernis für den Eintritt von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt wird bezeichnenderweise „rassische Diskriminierung“, sprich „Rassismus“, aufgeführt. Dazu paßt, daß die immer wieder als integrationshemmend genannten „Sprachbarrieren“ in der PIU-Studie am unteren Ende der Hindernisse für einen Eintritt in den Arbeitsmarkt angesiedelt werden.

Als erstes versuchte Barbara Roche, von 1999 bis 2001 Ministerin für Asyl und Zuwanderung, die Thesen der damals noch unveröffentlichten Studie zu „popularisieren“. Sie machte sich wohl vor allem deshalb zum Sprachrohr der neuen „open-door policy“ der Regierung Blair, weil sie von den Labour-Parteilinken scharf wegen ihrer Äußerungen gegen rumänischstämmmige Straßenbettler (Sinti und Roma) angegriffen wurde, die sie als „scumbags“ („Drecksäcke“) bezeichnet hatte. Im September 2000 skizzierte sie in einer Rede, basierend auf der PIU-Studie, die Eckpunkte der neuen Zuwanderungspolitik. Offenbar war von vornherein geplant, Widerstand von seiten der oppositionellen Tories als „rassistisch“ abzukanzeln, wie unter anderem der Daily Express berichtete.

Tatsächlich wurde dann dem Tory-Vorsitzenden William Hague in dem von Labour gewonnenen Wahlkampf 2001, in dem er Tony Blair vorwarf, er verwandele Großbritannien in ein „ausländisches Land“, vorgehalten, er spiele die „rassistische Karte“. Ebenso erging es seinem Nachfolger Michael Howard 2004, als er die Asylpolitik von Labour angriff; er wurde daraufhin schlicht und einfach als „Rassist“ denunziert.

All dies erinnert an den Umgang mit dem bereits erwähnten Enoch Powell, dem der Ruf anhängt, die Inkarnation eines englischen Rassisten gewesen zu sein. Selbst in der Encyclopedia Britannica steht vermerkt: „noted for his out­spoken racist views“. Powell hatte in seiner „Ströme von Blut“-Rede auf die Grenzen der Integration beharrt und einen Stopp der Einwanderung von Schwarzafrikanern und Asiaten sowie die Repatriierung derer gefordert, die sich bereits in Großbritannien niedergelassen haben. Obwohl Powell für seine Rede weitgehende Zustimmung in der Bevölkerung erhielt, bedeutete sie einen nachhaltigen Karriereknick.

Doch der Wind hat sich nun gedreht. Also konstatierte die Kolumnistin Minette Marrin nach Bekanntwerden der Neather-Worte mit Blick auf die BBC-Sendung in der Sunday Times, daß es naiv sei, Straw einen Irrtum in der Zuwanderungsfrage zu unterstellen; die Hintergründe seien weit finsterer: Labour-Minister verfolgten eine heimliche Strategie („hidden agenda“), um Großbritannien „mit Zuwanderern zu überfluten“. Nach den Enthüllungen von Neather sei es schwierig zu entscheiden, welches dieser „Verbrechen gegen Moral und Demokratie“ schlimmer sei.

Besonders heftig fielen naturgemäß die Reaktionen bei den politischen Gegnern der Labour Party aus, wobei die des „Labour-Dissidenten“ Frank Field mit zu den bemerkenswertesten gehörte: „Es ist in Großbritannien das erste öffentliche Aufscheinen der Wahrheit im Hinblick auf das Thema Zuwanderung.“ Er sei „sprachlos über die Vorstellung, daß Menschen denken können, sie könnten auf dieser Basis eine Nation sozial konstruieren“. Scharf äußerte sich auch der konservative Autor Peter Hitchens, der von einem „Zeitlupen-New Labour-Putsch“ sprach. Ziel der „Blairites“ sei es gewesen, die „konservative britische Kultur zu untermininieren und loszuwerden. Sie wollen Großbritannien in ein ausländisches Land verwandeln.“

Die Erklärungen Neathers haben eine Debatte über Zuwanderung losgetreten, in deren Mittelpunkt vor allem die „Gesellschaftsdesigner“ Tony Blair und Jack Straw stehen. Straws Renommee ist aber spätestens seit seinem „Question Time“-Auftritt im Keller. Punkten konnte in dieser Sendung dagegen der Vorsitzende der British National Party (BNP), Nick Griffin, dem es mehr und mehr gelingt, den britischen Unmut über die aus dem Ruder gelaufene Zuwanderungspolitik in Zustimmung für seine Partei umzumünzen (JF 45/09). Daß nur wenige Tage nach Neathers Ausführungen im Zusammenhang mit dem Thema Zuwanderung ein zweiter Skandal ruchbar wurde, ist ebenfalls Wasser auf die BNP-Mühlen.

Wiederum steht die Labour-Denkfabrik PIU im Mittelpunkt. Denn eine von ihr erstellte Untersuchung kam zu dem Ergebnis, daß die Massenzuwanderung der organisierten Kriminalität neue Möglichkeiten eröffnet habe. Die Labour Party soll diese Passagen aus der Untersuchung entfernt haben lassen, wohl aus der Sorge heraus, daß die Erkenntnisse durch den politischen Gegner ausgenutzt werden könnten.

Unterdessen bemüht sich der amtierende Labour-Innenminister Alan Johnson, die Wogen zu glätten. Er erklärte die ganzen Enthüllungen in bewährter Manier schlicht zum „Komplott“. Es habe aber einige „Ungeschicklichkeiten“ im Umgang mit der Frage der Zuwanderung gegeben. Eher lau fiel die Antwort von Jack Straw auf Neathers Enthüllungen im London Evening Standard aus, in der auch er von einem „Komplott“ sprach und erneut unterstrich: „Zuwanderung bringt und brachte enorme Gewinne für das Vereinigte Königreich. Unsere Geschichte ist auf sie aufgebaut, und die Vielfalt, die sie in unser Leben gebracht hat, sollte gewürdigt werden.“

 Die Lust zur „Würdigung“ scheint vielen Engländern längst vergangen zu sein: Bis 2033 sagt das Nationale Statistikamt einen Anstieg von 61 auf 71 Millionen Inselbewohner voraus – wofür in erster Linie Einwanderer und deren Kinder verantwortlich sein werden.

Bemerkenswert bleiben diese Vorgänge auf der Insel vor allem deshalb, weil sie schlaglichtartig das Denken eines Teils der europäischen Politikelite deutlich machen.

Foto: „Vielfalt“ in Londons Hyde Park: Der Regierung Tony Blair (Foto re.) gelang es, jedwede Kritik an der Zuwanderung zu stigmatisieren, Grafik siehe PDF

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