© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/09 20. November 2009

Der neue Traum von der alten Stadt
Der langjährige Senatsbaudirektor Hans Stimmann hat mit einem Bildband die Diskussion über Berlins historische Mitte eröffnet
Marcus Schmidt

Berlin hat keine Altstadt. Hat Berlin bald wieder eine Altstadt? Wie kaum eine andere deutsche Stadt ist Berlin durch Abriß, Krieg und sozialistische Stadtzerstörung seiner historischen Keimzelle beraubt worden. Dort wo sich einst das erste städtische Leben entwickelte, prägen jetzt unwirtliche Freiflächen, Autoschneisen und überdimensionierte sozialistische „Staatsarchitektur“ das Bild. Zeugnisse, die an die Entstehung der Doppelstadt Berlin und Cölln erinnern, sind kaum noch vorhanden. Selbst das Straßennetz, das in anderen deutschen Städten, die einen ähnlichen Verlust an historischer Substanz zu beklagen haben, den Bewohnern zumindest noch eine Ahnung von den mittelalterlichen Anfängen ihrer Stadt gibt, ist weitgehend verschwunden.

Der Schmerz der Berliner über den Verlust der steinernen Keimzelle hält sich indes in engen Grenzen. Dies liegt an dem schwierigen Verhältnis der auf ihren jeweiligen „Kiez“ fixierten Berliner zu ihrer Stadt. Nicht zuletzt aus diesem Grund fällt der Altstadt im kollektiven Bewußtstein vieler Hauptstädter eine unmaßgebliche Rolle zu.

Doch zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung der deutschen Hauptstadt, in denen die Schneisen, die Mauer und Stacheldraht in das Stadtbild geschlagen hatte, fast nahtlos verheilt sind und die letzten Kriegslücken geschlossen werden, hat die Diskussion um das verlorene Zentrum Berlins längst begonnen. Angestoßen hat sie ein Mann, dem es zu verdanken ist, daß der Bauboom nach 1990 nicht aus dem Ruder gelaufen ist und die Hauptstadt nicht zur Spielwiese für den Selbstdarstellungsdrang von Architekten aus aller Welt wurde. Die Rede ist vom langjährigen Senatsbaudirektor Hans Stimmann, der sich nicht nur durch sein konsequentes Eintreten für die Berliner Traufhöhe den Zorn von Architekten und vor allem Achitekturkritikern zugezogen hat. Mit einem beeindruckenden Bildband über die Berliner Altstadt, in dem er einen Weg „von der DDR-Staatsmitte zur Stadtmitte“ vorzeichnet, hat er nun neue Maßstäbe gesetzt. Stimmann fordert in seinem mit vielen Bildern, Bauplänen und Entwürfen versehenen Manifest eine räumliche Rekonstruktion der Berliner Mitte, insbesondere der heute weitgehend unbebauten Fläche zwischen Alexanderplatz und dem Schloßareal an der Spree. Ausdrücklich geht es Stimmann dabei um die Wiedergewinnung des Stadtraums und seine Verdichtung und nicht um die bauliche Rekonstruktion einzelner Häuser. Dennoch haben natürlich gleich nach dem Erscheinen die zahlreichen Verteidiger der sozialistischen Staatsarchitektur, der Berlin die riesige Freifläche in seiner Mitte verdankt, ihre ideologischen Schützengräben bezogen, um die von ihnen eilig zum Berliner „Central Park“ verklärte Ödfläche zu retten.

Doch wer das Buch unvoreingenommen zur Hand nimmt, kann sich der Macht der Bilder kaum entziehen. Besonders eindrucksvoll sind eine Reihe sogenannter Schwarzpläne (siehe unten), die in ihrer Abfolge die Veränderung der Bebauung der Berliner Stadtmitte in der Zeit von 1940 bis heute dokumentieren. Auf ihnen sind Gebäude schwarz, Straßen und Freiflächen weiß eingezeichnet. Auf diese Weise lassen sich deutlich die Wunden nachvollziehen, die der Bombenkrieg und die Stadtplanung der DDR geschlagen haben.

Während sich auf dem Plan von 1940 noch eine intakte Stadt mit einer vom Straßennetz eingefaßten geschlossenen Bebauung präsentiert, zeigt sich auf der Karte von 1953 bereits ein stark perforiertes Stadtbild, das sich durch die nachfolgende sozialistische Bau- beziehungsweise Abrißpolitik in der Mitte Berlins bis 1989 fast vollständig aufgelöst hat. An vielen Stellen finden sich nur noch kleine schwarze Häuserinseln in einem weißen Meer aus Brach- und Freiflächen. Auf dem aktuellsten Schwarzriß werden aber auch die Erfolge der maßgeblich während Stimmanns Amtszeit angestoßenen und noch längst nicht abgeschlossenen Maßnahmen der Stadtreparatur deutlich. Angeschlossen ist ein fiktiver Plan aus dem Jahr 2020, in dem er Vorschläge für einer Bebauung der Brachflächen eingearbeitet hat.

Die Diskussion über die Wiedergewinnung der verschwundenen Berliner Altstadt steht erst am Anfang, und ihre Dauer wird sich wohl (nimmt man die Debatte um das Stadtschloß als Maßstab) eher in Jahrzehnten als denn in Jahren messen lassen. Aber wie auch immer sich die Gestalt der historischen Mitte der Hauptstadt in der kommenden Zeit formen wird: Das imposante Buch Stimmanns wird Dreh- und Angelpunkt jeder Diskussion sein.

Hans Stimmann: Berliner Altstadt. Von der DDR-Staatsmitte zur Stadtmitte. Verlag Dom publishers, Berlin 2009, gebunden, 160 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 38 Euro

Fotos: So könnte der bislang unbebaute Platz vor dem Roten Rathaus im Zentrum Berlins im Jahr 2020 aussehen: Von den Stadtplanern der DDR restlos abgeräumt, Sogenannte Schwarzpläne mit den Stadtgrundrissen der Jahre 1940, 1989 und 2020 (rot das Stadtschloß und die von Stimmann vorgeschlagene Bebauung): Auch aus dem kollektiven Bewußtsein der Berliner ist die zerstörte mittelalterliche Altstadt längst verschwunden

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