© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/09 20. November 2009

Umbruch in der Bestattungskultur
Wenn die Weltangst erlischt
von Gernot Hüttig

Wer wollte noch daran zweifeln, daß die Feuerbestattung im Begriff ist, der Erdbestattung den Rang abzulaufen? Zwar nahm das erste deutsche Krematorium schon im Jahr 1878 den Betrieb auf. Doch blieb diese luftige Bestattungsform lange einem kleinen Kreis von Freigeistern vorbehalten. Erst nach dem letzten großen Krieg in Europa begann die Kremation des Leichnams auch breiten Bevölkerungsschichten einzuleuchten. Es war die katholische Kirche, die als letzte im Jahr 1963 die Waffen im Kampf um die Kremation streckte, weshalb die Flammen im katholischen Raum auch heute noch seltener lodern als im protestantischen, vom ehemals sozialistischen ganz zu schweigen.

Mit verwunderten Blicken muß rechnen, wer heute jenseits religiöser Antriebe nach der Bedeutung des Wechsels der Bestattungsform fragt. Im abendländischen (der Begriff ist wohl angestaubt, erspart aber langatmige Erläuterungen) Raum, so bekommt er zu hören, habe es doch auch früher, bei den „alten Germanen“ etwa, ein Nebeneinander von Erd- und Feuerbestattung gegeben. Der Einwand ist nicht zu widerlegen, bedarf der Widerlegung aber auch nicht, denn er berührt gar nicht erst das Problem.

Das Nebeneinander der Bestattungsformen endete im Abendland mit der Christianisierung, also mit Karl dem Großen, der im Jahr 785 die Feuerbestattung unter Androhung der Todesstrafe verbot. Fortan blieb die Feuerbestattung Hexen, Ketzern und anderen Teufelsbraten vorbehalten, denen die Auferstehung nichts zu bieten hatte – eine Praxis, die im 20. Jahrhundert in Gestalt der Einäscherung des weltanschaulichen und politischen Feindes wieder auflebte. Denn die Auferstehung verstand sich stets als leibliche, so daß dem Verstorbenen am Jüngsten Tag mit jener Handvoll Salz, der die Kremation nichts anhaben konnte, kaum gedient war. Wenn nun nach einem Jahrtausend die Ächtung der Kremation schwindet, so muß dem eine tiefere Strömung zugrunde liegen als jener Fortschritt, der in der Perfektion der Verbrennungstechnik und der Verbilligung des Brennstoffs liegt.

Es ist nicht das erste Mal, daß eine Bestattungsform eine andere ablöst. Die griechisch-römische Antike kannte ein Jahrtausend lang nur die Feuerbestattung. Erst in der sogenannten Spätantike kam die Erdbestattung auf, von der die Sarkophage zeugen, die wir leichtgläubig der griechisch-römischen Antike zuschreiben. In diesem Wandel der Bestattungsform drückt sich, wenn man dem Geschichtsdeuter Oswald Spengler folgt, etwas Grundstürzendes aus: die Heraufkunft jener neuen Kultur nämlich, die er als die „magische“ bezeichnet und mit der er die verschiedenen im Osten des römischen Reiches aufgeblühten und nun auch die Kernländer der Antike durchwirkenden, innerlich zusammengehörenden arabisch-jüdisch-persisch-christlichen Bewegungen zusammenfaßte, die Jahrhunderte später großenteils in den Islam mündeten. „Als in der Kaiserzeit“, so Spengler, „neben die Aschenurne der Sarkophag, der Fleischverschlinger trat, war ein neues Zeitgefühl erwacht, genau wie damals, als auf die mykenischen Schachtgräber die homerische Urne folgte.“

Jede Kultur, so lautet die Botschaft, findet ihre eigene Antwort auf die Bestattungsfrage, sei es die griechisch-römische Kultur, die aus der mykenischen Vorkultur erwuchs, in der wie bei den „alten Germanen“ Erd- und Feuerbestattung noch nebeneinander bestanden hatten, sei es die „magische“ Kultur, die um die Zeitenwende die der Feuerbestattung verpflichtete griechisch-römische Kultur abzulösen begann.

Warum aber kommt der Bestattungsform überhaupt Bedeutung zu? Warum ist ihre Wahl nicht zufällig und hängt etwa vom Holzvorrat der jeweiligen Landschaft ab? Auch auf diese Frage gibt Spengler Antwort, dessen „kopernikanische Wende“ der Geschichtsbetrachtung uns von dem überkommenen Schema Altertum – Mittelalter – Neuzeit erlöst und den unbefangenen Blick auf die Gruppe der bisherigen Hochkulturen freigegeben hat – ein Blick, der uns bei der Lektüre von Samuel Huntingtons „The Clash of Civilizations“ wiederbegegnet und der um so wertvollere Aufschlüsse gewährt, als die Globalisierung die interkulturellen Beziehungen und Spannungen intensiviert.

Die Erkenntnis der Differenz zwischen Ich und Welt, Subjekt und Objekt erweckt Spengler zufolge die „Weltangst als die rein menschliche Angst vor dem Tode, der Grenze in der Welt des Lichts, dem starren Raum. Hier liegt der Ursprung des höheren Denkens, das zuerst ein Nachdenken über den Tod ist. Jede Religion, jede Naturforschung, jede Philosophie geht von hier aus.“ Trifft diese Ansicht zu, so liegen die Folgen für die Bestattungsform auf der Hand: „Jede große Symbolik heftet ihre Formensprache an den Totenkult, die Bestattungsform, den Schmuck des Grabes (...) Dieser Zusammenhang mit dem Ende des organischen Seins, mit der Erscheinung seines anorganischen Restes, des Leichnams, wird sich immer deutlicher als der Ursprung aller großen Kunst enthüllen.“

Freilich unterscheiden sich die Kulturen in der Wahrnehmung des Außer-Ich, der Welt, und dem entsprechen dann Unterschiede des Totenkultes: „Der ägyptische Stil beginnt mit den Totentempeln der Pharaonen, der antike mit dem geometrischen Schmuck der Graburnen, der arabische mit Katakomben und Sarkophagen, der abendländische mit dem Dom, in welchem sich der Opfertod Jesu unter den Händen des Priesters täglich wiederholt.“ Die Wahl der Form des Totenkultes ist also alles andere als zufällig: „Hier wählte der antike Mensch aus tiefstem, unbewußtem Lebensgefühl heraus die Totenverbrennung, einen Akt der Vernichtung, durch den er sein an das Jetzt und Hier gebundenes euklidisches Dasein zu gewaltigem Ausdruck brachte. Er wollte keine Geschichte, keine Dauer, weder Vergangenheit noch Zukunft, weder Sorge noch Auflösung, und er zerstörte deshalb, was keine Gegenwart mehr besaß, den Leib eines Perikles und Cäsar, Sophokles und Phidias.“

Ganz anders die ägyptische Wahl: „Und die Ägypter, welche ihre Vergangenheit so gewissenhaft im Gedächtnis, in Stein und Hieroglyphen aufbewahrten, daß wir heute noch, nach vier Jahrtausenden, die Regierungszahlen ihrer Könige bestimmen können, verewigten auch deren Leib, so daß die großen Pharaonen (…) mit jetzt noch erkennbaren Gesichtszügen in unseren Museen liegen, während von den Königen der dorischen Zeit nicht einmal die Namen übriggeblieben sind.“

Die griechisch-römische Antike und die ägyptische Kultur bilden gewissermaßen die Extreme der bisher in Erscheinung getretenen Kulturen. Wir schmeicheln uns, indem wir uns als Erben der ersteren fühlen. Spengler zufolge beruht diese Liaison jedoch auf einem Mißverständnis. Nur die indische Kultur, die bezeichnenderweise ebenfalls die Kremation als ihre Bestattungsform vorweisen kann, ähnele, so Spengler, der griechisch-römischen Antike, während das abendländische Weltgefühl dem der ägyptischen und chinesischen Kultur nahestehe. Vielleicht ahnte Goethe, der sich ansonsten, dem Zeitgeist gehorchend, der griechisch-römischen Antike verpflichtet wähnte, etwas von diesen Verwandtschaftsverhältnissen, als er 1826 feststellte, die Chinesen dächten, handelten und empfänden „fast ebenso wie wir, und man fühlt sich sehr bald als ihresgleichen, nur daß bei ihnen alles klarer, reinlicher und sittlicher zugeht“.

Das Aufkommen der Kremation in einem Raum, in dem jahrhundertelang ausschließlich die Erdbestattung legitim gewesen war, wäre also nur dann der Vorbote eines Neuen, wenn zugleich mit dem Verdämmern der alten Kultur eine neue Kultur geboren würde, die die abgelaufene abendländische zu ersetzen sich anschickte. Die entscheidende Frage, was das Neue denn sei und woher es komme, bleibt indes unbeantwortet. Zwar strömen, insoweit vergleichbar den spätantiken Verhältnissen, dem Kulturkreis fremde Bevölkerungsmassen in den abendländischen Raum. Doch sind diese keineswegs die Träger des Kremationswesens – der Anteil der aus dem indischen Raum, in dem die Kremation auf eine ungebrochene Tradition zurückschauen kann, stammenden Zuwanderer ist marginal. Im Gegenteil: Nicht die großenteils islamischen und deshalb der Erdbestattung zugeneigten Einwanderer sind die Kunden der Krematoren, sondern das autochthone Volk.

Erklärt die Überlagerung und zunehmende Ersetzung der abendländischen Völker durch Zuwanderermassen mitnichten das Vordringen der Kremation, so bleibt als Grund der Wandlung der Bestattungsform nur das Verlöschen der Weltangst übrig, mit dem dann auch die Antwort des abendländischen Menschen darauf gegenstandslos wird. „Nur der innerlich erstorbene Mensch der späten Städte (...), nur der rein intellektuelle Sophist, Sensualist und Darwinist verliert oder verleugnet sie (die Weltangst), indem er eine geheimnislose wissenschaftliche Weltanschauung zwischen sich und das Fremde stellt.“

In der Vermutung, das Aufkommen der Kremation und ihr Hinzutreten neben die überkommene Bestattungsform kündige nichts Neues an, sondern illustriere nur das Ende eines Alten, sehen wir uns durch einen mit der Witterung für den Eintritt von Neuem ausgestatteten Diagnostiker des letzten Jahrhunderts, Carl Schmitt, bestätigt, der die Krematoren in schlechter Gesellschaft verortet: „Die Vermassung beginnt mit der Abschaffung der Beerdigung. (...) Eigentum ist nur das, was man mit ins Grab nehmen kann. Heute also nichts mehr; nur der tote Leib, den man dann besser verbrennt. Die Pazifisten, die Fruchtabtreiber und die Leichenverbrenner triumphieren also.“

Zur Masse ist die Bevölkerung dann geworden, wenn ihr das Wissen um Rangunterschiede und deshalb der Glaube, der sich wesensgemäß auf Rangunterschiede gründet, abhanden gekommen ist. Zwei der die Atomisierung der Gesellschaft und damit die Vermassung fördernden Kräfte hat Kardinal Karl Lehmann dingfest gemacht: „Nach der Aufklärung haben vor allem Freimaurer und Marxisten die Feuerbestattung betont als praktisches Mittel gegen die Kirche eingesetzt, indem sie in der Feuerbestattung ein Argument gegen die Unsterblichkeit der Seele und den Glauben an eine Auferstehung der Toten sahen.“ Hinzuzufügen wäre mit Lorenz Jäger („Hinter dem großen Orient“), daß die Pioniere der Kremierung schon im 19. Jahrhundert ihre wahren Absichten hinter Zweckmäßigkeitserwägungen, insbesondere dem Hygieneargument verbargen.

Das Erlöschen der Weltangst hat also Folgen. Eine von ihnen ist das Verblassen der Symbolik des Totenkultes. Nach dem Erlöschen dieser Symbolik folgt wie in der den Hochkulturen jeweils vorausgegangenen Zeit die Wahl der Bestattungsform wieder anderen als kulturellen Antrieben, am Ende gar nur noch den Schwankungen des Boden- und Gaspreises. Sie verwandelt sich in ein Entsorgungsproblem. Eine andere Folge ist der Zerfall der Institutionen der Familie und des Staates – Institutionen, die der Sorge, dem abendländischen Urgefühl der Zukunft, entspringen. Eine Facette des Staatszerfalls bildet die Öffnung der Grenzen für alle Welt. Insofern fallen die Zuwanderung und das Aufkommen der Kremation zusammen. Es besteht allerdings kein ursächlicher, sondern nur ein zeitlicher Zusammenhang zwischen ihnen: Beide Erscheinungen bedingen einander nicht, sondern beide beruhen auf einer weiteren Ursache. Am Rande ist anzumerken, daß, sobald in wenigen Jahrzehnten die autochthone Bevölkerung zur Minderheit geworden sein wird, die Gewohnheit der Zuwanderer die Oberhand gewinnen und die Bedeutung der Kremation wieder schwinden wird.

Nun sehen wir auch einige Dilemmata unserer Feuerbestattungskultur schärfer. Heute spricht sich in der Kremation kein kulturell geprägter Wille aus, den Leichnam zu vernichten, sondern die schlichte Nützlichkeitserwägung, vor allem der Wunsch, nach dem Ableben niemandem mehr zur Last zu fallen. Gleichwohl wird der Asche, deren Übrigbleiben doch nur der Unzulänglichkeit der Verbrennungstechnik anzulasten ist, gewohnheitsmäßig eine Verehrung gezollt, wie sie bei der Erdbestattung dem Leichnam zugekommen war. Daraus speist sich die Ridikulität unserer Feuerbestattungsriten, die als Musterfall einer Pseudomorphose gelten dürfen. Und hierher gehört auch die Beobachtung, daß dort, wo auf den Friedhöfen Urnenfelder eingerichtet werden, in denen das Grab, jenen Nützlichkeitserwägungen Rechnung tragend, nur durch eine Marke gekennzeichnet ist, sich derselben bei Nacht und Nebel die bei der Erdbestattung gebräuchlichen Accessoires hinzugesellen: Grabsteine, Findlinge mit und ohne Inschriften, Blumenschalen, Anpflanzungen und Totenleuchten. Die Friedhofsverwaltungen haben weitgehend resigniert und finden sich mit dem Friedhof der Beliebigkeiten ab.

 

Gernot Hüttig, Jahrgang 1943, arbeitete seit 1970 als Jurist. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das parlamentarische Wahlsystem („Es gewinnt immer die Bank“, JF 24/09).

Bild: Caspar David Friedrich, „Friedhofseingang“ (1825)

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