© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/09 11. Dezember 2009

SWR-Dokumentation: „Der Amoklauf von Winnenden“
Dem Leben einen neuen Sinn geben
Herdis Helgenberger

Seit dem 11. März 2009 ist die Stadt Winnenden Synonym für eines der schwersten Schulmassaker, die sich je in Deutschland ereigneten. An diesem Tag erschoß der 17jährige Amokläufer Tim K. sechzehn Menschen, bevor er sich auf der Flucht vor der Polizei selbst richtete. Längst haben andere Meldungen die schrecklichen Bilder vom Tatort abgelöst. Für Eltern und Freunde der Opfer dagegen ist die Erinnerung an jenen furchtbaren Vormittag gleichbleibend präsent.

Acht Monate nach dem Blutbad hat der SWR-Reporter Stefan Maier für seinen anrührenden Film die Stadt noch einmal besucht. Behutsam nähert er sich Zeugen und Angehörigen der getöteten Schüler, die in der Allgegenwart der Medien lernen mußten, den ersten Schock ihrer Trauer zu bewältigen. Dabei verzichtet Maier mit wohltuender Empathie für die fragile Materie, sich mithilfe billiger Gruseleffekte die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu sichern. Schonend in der Geste und sachlich im Ton begleitet der Film die Trauerreise von Eltern und Freunden und zeigt, wie diese versuchen, ihrem Leben nach dem Massaker einen neuen Sinn zu geben.

Verblüffend ist, daß es Maiers Dokumentation eines Verbrechens gelingt, die Person des Verbrechers beinahe vollständig zu tilgen. Der Täter hat kein Gesicht, die Ungeheuerlichkeit seiner Tat wird in den Nebel fassungslosen Staunens gehüllt, den weder die Beteiligten noch der Autor des Films zu durchdringen suchen. Das Ereignis wird als „Katastrophe für die Stadt“ (Frank Nipkau, Chefredakteur der Winnender Zeitung) stilisiert, die die Bewohner Winnendens unvorbereitet traf, nicht als brutale Tat, für die ein einzelner Mensch verantwortlich ist. So bekommt die insgesamt sehenswerte Reportage eine Leerstelle, die ihrer Machart angemessen sein mag, das Titelthema jedoch verfehlt.

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