© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/09-53/09 18./25. Dezember 2009

Ein höchst zweifelhaftes Werk
Lebensmittel: Der Codex Alimentarius als Werkzeug großindustrieller Willkür / Kritik von Heilpraktikern und Verbraucherschützern
Michael Howanietz

Um Gerichten ein Instrument zur Urteilsfindung von im Lebensmittelbereich angesiedelten Streitfällen an die Hand zu geben, schuf die k.u.k-Monarchie im Jahr 1893 ein Codex Alimentarius benanntes Regelwerk. Die Uno reanimierte diese Innovation 1963 als gemeinsames Werkzeug von Welternährungsorganisation (FAO) und Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die USA, denen 2008 der Vorsitz in diesem Gremium zugesprochen wurde, sind die dominierende Kraft in der über 170 Mitgliedsstaaten zählenden Codex-Alimentarius-Kommission (CAC). Diese machtvolle Instanz, die Normen für Lebensmittelsicherheit und Produktqualität erarbeiten soll, tritt im Zweijahresrhythmus zusammen. Sie verfügt allerdings über zahlreiche nachgeordnete Codex-Komitees, die häufiger tagen. Das Exekutiv-Komitee der CAC traf sich diese Woche in Genf.

Als Delegierte haben die Regierungen der Mitgliedsländer Vertreter der Industrie, von Verbraucher- und Erzeugerverbänden sowie Wissenschaftler entsandt. Die Kommission legt Bewertungen von Zusatzstoffen, Höchstwerte für Pestizid­rückstände, Kennzeichnungspflichten, Lebensmittel-Zusatzstoffe, Schadstoff-Grenzwerte und vieles mehr fest. Sie ist die höchste Instanz für Lebensmittelstandards. Verbraucherschützer und Mediziner kritisieren häufig die zu „industriefreundlichen“ Entscheidungen.

So gab es im Mai anläßlich des CAC-Treffens in Calgary den – vorerst erfolglosen – Versuch, ein globales Verbot für die Kennzeichnung gentechnisch veränderter Nahrungsmittel zu erwirken. Die USA drängen aber weiter darauf, die Bezeichnung „Gentechnik“ durch „Moderne Biotechnologie“ zu ersetzen. Andererseits gibt es Pläne, die darauf abzielen, Lebensmittel (inklusive Wasser) künftig strengstens zu reglementieren. Bestimmte Nährstoffe sollen als Giftstoffe betrachtet werden, die aus Lebensmitteln zu entfernen sind. Denn der Codex untersagt die Verwendung von Nährstoffen zur „Vorbeugung, Behandlung oder Heilung von Krankheiten“.

Daher weisen für den Handel zugelassene Vitamin- und sonstige Nahrungsergänzungspräparate stetig reduzierte Dosierungen auf. Diese werden weiter zurückgehen, da zum 31. Dezember die Übergangsfristen für nationale Regelungen auslaufen. Mit der Möglichkeit einer Hypervitaminose (Befindlichkeitsstörungen aufgrund übermäßiger Zufuhr) hat das aber nichts zu tun. Vielmehr gelten Nährstoffe per se als potentielles Übel.

Demzufolge soll auch eine Bestrahlung sämtlicher Lebensmittel durchgeführt werden, um ebendiese „Giftstoffe“ (etwa durch radioaktive Sterilisierung) unschädlich zu machen – wie es in den USA an den Beispielen Kopfsalat und Spinat bereits praktiziert wurde. Nicht nur Anhänger alternativer Heilverfahren sehen darin eine Einschränkung des Rechts auf Selbstbestimmung bei der Ernährung. Das Bundesverbraucherschutzministerium (www.bmelv.de) bescheinigt der CAC hingegen, sie wolle lediglich „der Weltbevölkerung das größtmögliche Maß an Verbraucherschutz, Lebensmittelsicherheit und -qualität zusichern“.

Die für Etikettierungsvorschriften zuständige CAC-Kommission legt parallel fest, daß bezüglich nicht patentierbarer Pflanzen und Substanzen keinerlei Aussagen über deren etwaige gesundheitsfördernde Wirkungen ausgeschildert werden dürfen. Dieses Privileg soll künftig einzig Erzeugnissen der Pharma- oder Gentechnikindustrie vorbehalten bleiben. Dies ist eine klare Benachteiligung traditioneller Lebensmittel oder naturbelassener Heilkräuter. „Ungleichbehandlung von gentechnisch veränderten und konventionellen Lebensmitteln könnte zur Irreführung von Verbrauchern führen und ist zu vermeiden. Mögliche Risiken dürfen nicht aufgebauscht werden, und zu treffende Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein“, verlautbarte dazu beispielsweise das österreichische Gesundheitsministerium. Zu den Codex Alimentarius-Richtlinien für gentechnisch veränderte Nahrungsmittel heißt es: „Mögliche Lenkungseffekte, zum Beispiel durch die Kennzeichnung von Lebensmitteln, müssen genau bedacht werden. Die Verzerrung des Wettbewerbs ist nicht gerechtfertigt.“

So erklärt sich die lückenhafte EU-Kennzeichnungspflicht für genveränderte Nahrungsmittel, von der tierische Produkte ausgenommen sind. So wurde auch die Verwässerung der EU-Ökoverordnung begründet, die eine Ver­neunfachung des Grenzwerts für die erlaubte gentechnische Verunreinigung von Bio-Lebensmitteln von 0,1 auf 0,9 Prozent mit sich brachte. In den USA indes beträgt der erlaubte Grenzwert dieser „Verunreinigung“ von Bioprodukten satte zehn Prozent. Bis zu diesem Wert dürfen Waren das Biolebensmittel-Zertifikat des US-Landwirtschaftsministeriums tragen.

Da die vielpropagierte Koexistenz von genveränderter mit biologischer oder konventioneller Landwirtschaft aufgrund unvermeidlicher Auskreuzungen (Pollenflug, Bestäubung) eine leere Worthülse bleiben wird, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die in der EU gültigen Grenzwerte jenen der USA angeglichen werden müssen – so lange, bis Bio von gentechnisch verändert, also „verunreinigt“ bzw. „kontaminiert“, nicht mehr unterscheidbar ist. Dann ist vollzogen, was in den USA mit der Mär von der „substantiellen Äquivalenz“ strategisch ausgeklügelt begonnen wurde.

Willkürliche Grenzwerterhöhungen für Schadstoffe, die Wiederzulassung bekannt toxischer, karzinogener und unfruchtbar machender Pestizide, die Festschreibung erlaubter Vitamindosen, die um das zehn- bis tausendfache unter den gesundheitsrelevanten Wirkwerten liegen, all das könnte unumkehrbare Gültigkeit erlangen, sollten die WTO- und Codex-Mitgliedsstaaten ihre letzten Ausstiegschancen verschlafen (wollen).

Schwarz-Gelb waren die Farben der österreichisch-ungarischen Monarchie, mit der die Geschichte des Codex Alimentarius begann. 2009 ist es eine vordringliche Forderung an Schwarz-Gelb in Berlin, sorgsam zu überlegen, wie der Gefahr einer faktischen CAC-Nahrungsmitteldiktatur rechtzeitig begegnet werden kann. Die WTO-Mitgliedsländer haben sich verpflichtet, den Codex Alimentarius einzuführen. Ein Ausstiegsszenario ist nicht vorgesehen.

Das Europäische Informationszentrum für Lebensmittel im Internet: www.eufic.org/article/de/

Die CAC-kritische Gesellschaft für Ernährungsheilkunde: www.zentrum-der-gesundheit.de

Die CAC: www.codexalimentarius.net

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