© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/09-53/09 18./25. Dezember 2009

Die Nachteile für die Sowjets lagen auf der Hand
Vor dreißig Jahren griff die Sowjetunion Afghanistan an / Ein Feldzug, der die UdSSR viel Blut und Renommee kostete
Andreas Graudin

Gegen das Votum des Generalstabs der sowjetischen Armee beschlossen Ende Dezember 1979 Generalsekretär Leonid Breschnew, Außenminister Andrej Gromyko, Marschall Dmitri Ustinow und KGB-Chef Juri Andropow den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan. Der Kalte Krieg schien in eine neue Phase zu treten, denn erstmals ließ Moskau selbst außerhalb des Warschauer Paktes Panzer rollen. Ein „Stellvertreterkrieg“ kam nicht mehr in Frage, nachdem die afghanischen Stellvertreter vorhersehbar versagt hatten.

Mit dem Sturz des letzten Königs, des schwachen und unpopulären Zahir Schah, geriet das blockfreie Land immer stärker in einen kommunistischen Sog. Träger dieser Entwicklung waren kleine Gruppen in der Sowjetunion ausgebildeter Intellektuelle und Militärs. Ihre rivalisierenden kommunistischen Splitterparteien waren allerdings kaum größer als westdeutsche K-Gruppen. Blutiger Massenmord an Andersdenkenden und an moslemischen Geistlichen löste den Bürgerkrieg aus, den diese Clique nur verlieren konnte.

Als ihnen im Dezember 1979 das Wasser bis zum Hals, die islamischen „Gotteskrieger“, die Mudschaheddin, schon in Kabul standen, setzten sie über Radio Kabul einen „Hilferuf“ ab. Dem gab das Moskauer Politbüro nach. Über die Gründe ist viel gerätselt worden, denn die Nachteile für die UdSSR lagen auf der Hand: Vertrauensverlust in der moslemisch-arabischen Welt und bei den Blockfreien, eine mögliche Verständigung zwischen Iran und den USA, die Stärkung einer chinesisch-amerikanischen Allianz und ein westliches Wirtschaftsembargo.

Die Irrationalität dieser Entscheidung machte die Umsetzung des Nato-Nachrüstungsbeschlusses erst möglich. Es ist im Zusammenhang mit der Besetzung Afghanistans immer wieder von der Breschnjew-Doktrin gesprochen und geschrieben worden, wonach die Sowjetunion berechtigt sei wie 1968 in der Tschechoslowakei in einem Land des sozialistischen Lagers eine bedrohte sozialistische Ordnung wiederherzustellen. Obwohl Afghanistan nie dem Warschauer Pakt angehörte, sei die Invasion auch eine Drohung an unbotmäßige Vasallen in Europa gewesen. Daneben mag ein geostrategisches Interesse und ein unmißverständliches Signal an die moslemischen Nationen in der UdSSR eine Rolle gespielt haben, jedenfalls besetzten am 26. und 27. Dezember 1979 sowjetische Fallschirmjäger als Vorhut den Kabuler Flughafen.

Der afghanische Bürgerkrieg verschärfte sich. Die Masse der afghanischen Armee desertierte, und die Hauptlast des Kampfes gegen die moslemischen Mudschaheddin-Fraktionen mit ethnischer Grundierung trugen von nun an die Sowjets. Es war schwierig, die auf großflächigen Panzerangriff geschulte Rote Armee auf die ungewohnten Geländeverhältnisse am Hindukusch umzustellen. Nach herben Verlusten und Massakern stellte sie ihre Taktik auf den Einsatz von Kampfhubschraubern und leichten Erdkampfflugzeugen zur Unterstützung kleinerer motorisierter Einheiten um. Napalm und andere biologische und chemische Kampfstoffe kamen zum Einsatz.

Der Alkohol- und Drogenmißbrauch in der Invasionstruppe demoralisierte ebenso wie einst bei der US-Armee in Vietnam. Über den Rückzugsraum Pakistan nahm die CIA Kontakt zu den Mudschaheddin auf, von denen nicht wenige über zwanzig Jahre später zu den Todfeinden der USA zählen sollten. Zweitausend tragbare Flugabwehrraketen „Stinger“ sollen ihnen die USA geliefert haben. Die Masse wurde im Kampf verbraucht und holte sowjetische Hubschrauber, Truppentransporter und Jets vom Himmel. Der Rest bedroht heute potentiell den zivilen Flugverkehr weltweit.

Der effektiveren Bedrohung durch die Mudschaheddin setzten die Sowjets eine Taktik der „Verbrannten Erde“ entgegen, was zu einer großen Flüchtlingsbewegung nach Pakistan führte. Kriegsverbrechen und Greueltaten kamen auf beiden Seiten vor – Spielzeugminen, Gasangriffe, vergiftete Brunnen. Von gefangenen und lebend ausgetauschten Sowjetsoldaten hat man selten gehört – ebensowenig von sowjetischen Kriegsgefangenenlagern für Mudschaheddin. Knochen, die deutsche Erkundungstrupps heute in der Wildnis finden, stammen überwiegend aus jener Zeit.

Die Mudschaheddin zwangen nach und nach der Sowjetarmee ihre Kampfweise auf. Für die Invasoren galt bald: Eskortierte Konvois nur noch bei Tage, relative Sicherheit nur in den großen Städten, Operationen nur mit sofortiger Luftunterunterstützung auf Anforderung und unter Vermeidung von Nahkämpfen. Die Nacht gehörte den Afghanen, der Tag – mit Einschränkungen – den Sowjets. Gleichzeitig stellte das Schlachtfeld Afghanistan das Versuchsfeld für sowjetische Waffen, Geräte und Führungsgrundsätze dar. Es lieferte der sowjetischen Armee ein Reservoir kampferprobter Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften. Hiervon profitieren heute die im Nato-Rahmen eingesetzten Kontingente der baltischen Staaten. Eine Reihe ihrer Berufssoldaten kann auf Vordienstzeiten in Afghanistan in anderer Uniform zurückblicken.

Dabei werden der Afghanistan-Krieg und seine Folgen für die UdSSR wohl überschätzt. Die Verluste von knapp 15.000 Soldaten reichten bei weitem nicht an jene der USA in Vietnam heran, und eine Diktatur steht nicht unter dem Rechtfertigungsdruck einer öffentlichen oder veröffentlichten Meinung. Die Sowjetunion hätte der Abnutzung noch lange standhalten können. Das rohstoffarme Afghanistan wurde aber immer mehr zur politischen und wirtschaftlichen Hypothek der Breschnjew-Ära, der sich die neue Kreml-Führung unter Gorbatschow entledigen wollte. Der Rückzug im Februar 1989 verlief geordnet und war keine Flucht. Er fiel wohl nicht zufällig mit der ausdrücklichen Aufgabe der Breschnjew-Doktrin zusammen.

1991 verständigten sich die USA und die Jelzin-Regierung auf eine Einstellung der Waffenlieferungen an die Bürgerkriegsparteien. Die Mudschaheddin machten 1992 der letzten Marionettenregierung, ohnehin eine machtlose Farce, den Garaus. Ab 1994 gewannen die Taliban, die „Koranschüler“, die Oberhand. Afghanistan wurde unter ihnen zur Drehscheibe des islamistischen Terrors und des internationalen Drogenhandels.

Foto: Rote-Armee-Spezialeinheit Speznas 1986 am Hindukusch: Greueltaten auf beiden Seiten

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