© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/09-53/09 18./25. Dezember 2009

Der Sonntag als Tag der Arbeitsruhe
Alles zu seiner Zeit
von Jüren Liminski

In Deutschland regelt seit der Föderalismusreform 2006 jedes Land seine Ladenschlußzeiten selbst. Deshalb findet man in Nordrhein-Westfalen, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern verkaufsoffene Sonntage, in Bayern, Baden-Württemberg oder Nieder­sachsen und Hessen aber nicht. Nötig ist das nicht. Denn zum einen sind in vielen Städten nicht nur im Sommer oder wie jetzt zur Adventszeit die Geschäfte in der Woche einschließlich samstags auch abends und selbst nachts geöffnet. Zum anderen greift hier die gnadenlose Wirtschaftswelt weiter nach dem Ruheraum des Bürgers. Der Wettbewerb verlange das, heißt es in der Politik und bei Banken und Vorständen, sonst koste es Arbeitsplätze. Und in der Regierung dachte man auch ungeniert darüber nach, Arbeitszeiten generell zu „deregulieren“. Der Sonntag solle „floaten“, er solle sich den Bedürfnissen der Wirtschaft unterordnen, damit Deutschland international wettbewerbsfähig bleibe.

Diesem Denken hat Karlsruhe den Riegel der Verfassung vorgeschoben und dem Kapitalismus eine Pause verordnet (JF 50/09). Am Sonntag soll wenigstens prinzipiell Ruhe herrschen. Deshalb darf Berlin eben ab 2010 nicht mehr an allen Adventssonntagen die Kaufhäuser öffnen. Der paradiesische Ursprungs­charakter, für den der (arbeits-)freie Sonntag steht, bleibt in Deutschland zeitweise erhalten.

Anders in Frankreich. Dort ist es dem Präsidenten im Spätsommer im vierten Anlauf gelungen, die Sonntagsarbeit in neoliberalem Ungeist zu liberalisieren. Tendenziell soll beim Nachbarn der Sonntag werden wie ein Wochentag. Das ergebe sich aus „strukturellen Faktoren“, heißt es.

Um diese Struktur geht es. Sie ist de facto das Gesetz einer „totalitären Arbeitswelt“ (Josef Pieper), die dem Marktgeschehen und der Arbeit absolute Priorität einräumt. Es war der Erzbischof von Straßburg, der zum Nationalfeiertag die Regierung in seiner Predigt daran erinnerte, daß der Mensch eine „Zeit der Arbeit und eine Zeit der Erholung“ brauche, so wie die Bibel es schon vorsehe. In unseren Tagen bedeute das: „eine Zeit für industrielle Produktion und eine Zeit für die Kunst und das Gebet“. Viele Politiker und Manager werden sich das kaum zu Herzen nehmen. Ihr Götze ist die Arbeit, und sie verstehen nicht, daß der Mensch ohne zeitliche Zäsuren im Zeitbrei untergehen kann wie in Treibsand.

Der laizistische Mitte-Links-Politiker François Bayrou, der sozusagen aus Prinzip gegen den Präsidenten Opposition betreibt, aber ansonsten ähnlich neoliberal denkt, schreibt in seinem jüngsten Buch „Mißbrauch der Macht“, dieses Land habe soviel Mühe gehabt, sich aus der Umklammerung des Bündnisses zwischen Thron und Altar zu lösen, und finde sich nun ausgeliefert dem „unanständigen Bündnis zwischen Thron und Kapital“. In der Tat: Mit der Abschaffung der Sonntagsruhe stößt die Politik beim Nachbarn in eine Dimension vor, in der sie Besitz ergreifen will vom ganzen Menschen. Solange sich das auf einzelne Bereiche und Politiker beschränkt, ist es erträglich. Damit geben sich Ideologen des Marktes aber nicht zufrieden.

„Dem veränderten Kundenverhalten Rechnung tragen“ – so rechtfertigte die Kaufhof AG vor ein paar Jahren die Neuerung ihrer Öffnungszeiten. Auch die Karlsruher Richter begründeten in einer ersten Entscheidung 2003 mit ähnlichen Argumenten ihr Urteil. Die Bevölkerung habe ein „erheblich verändertes Freizeitverhalten“.

Seit der Krise sieht man es anders. Jetzt gilt nicht mehr der egoistische Wunsch des gemeinen Konsumenten, zu fordern, daß sich Tausende von Arbeitnehmern am Sonntag hinter die Verkaufstheken zwängen und ihrem alltäglichen Geschäft nachgehen, auf ihre Familien verzichten und dabei oft nicht einmal Lohnzuschlag erhalten. Jetzt ist klargeworden, daß der Schutz des Sonntags auch in der Verantwortung der Politik liegt, nicht nur in der Verantwortung unserer verrückten Konsumgesellschaft. Es ist den Richtern aufgefallen, daß in Zeiten von Burnout-Syndrom und boomenden „Finde dich selbst“-Ratgebern der Sonntagsruhe kaum noch Bedeutung beigemessen wurde, daß Menschen depressiv werden, weil ihnen alles über den Kopf wächst. Daß Freundschaften, Ehen und Familien oft deshalb zerbrechen, weil niemand für niemanden mehr Zeit hat.

Es war den Kirchen zu danken, daß die Richter auch die kulturelle Dimension des Sonntags erkannten. Es geht mit dem Sonntag um ein Kulturgut, um Menschlichkeit im „totalitären Arbeitsstaat“ (Ernst Jünger). Dieser Arbeitsstaat ist der neue Leviathan. Er hat die Tendenz, alle Lebensbereiche zu verwirtschaften. Und genau darin besteht der europäische Trend. Diesem Trend boten die Richter die Stirn. Es war höchste Zeit. Aber noch ist der Sonntag nicht gerettet. Der Trend wirkt weiter, zum Beispiel in einer Familienpolitik, die die einzelnen Mitglieder vereinzelt und dem langen Arm des Staates zugänglich macht.

In Deutschland regeln das Grundgesetz in Artikel 140 und das Arbeitszeitgesetz die Sonn- und Feiertagsarbeit. Danach gibt es trotz des generellen Verbots der Sonntagsarbeit 16 Ausnahmetatbestände für Bereiche, in denen der sonntägliche Betrieb unverzichtbar ist: zum Beispiel bei Sport- und Freizeiteinrichtungen, bei Messen, in der Bewachungsbranche und bei der Feuerwehr und natürlich auch, wenn man so will, in der Kirche. Der Sonntag ist für Geistliche im gesetzlichen Sinn ein arbeitsintensiver Tag. Außerdem können die Aufsichtsbehörden an Sonntagen Arbeit genehmigen, wenn ansonsten der Wettbewerb mit dem Ausland zuungunsten deutscher Unternehmen verzerrt würde oder wenn durch Sonn- und Feiertagsbeschäftigung Arbeitsplätze gesichert werden können. Das Institut der deutschen Wirtschaft spricht von rund mehreren hundert Ausnahmefällen, was zeigt, wie löcherig die Regelung bereits ist.

Kollege Trend beweist es: Fast jeder vierte Arbeitnehmer ist bereits sonntags tätig, 1991 war es nur jeder sechste. Das hat freilich auch mit den Zuschlägen für diese Sonderarbeit zu tun. Sie bewegen sich um die fünfzig Prozent des normalen Lohns, Spitzensätze gehen bis zu 120 Prozent, zum Beispiel im Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen. Wer an Feiertagen an Rhein und Ruhr Bier braut, kann sogar mit einer Aufstockung des Lohns um 200 Prozent rechnen, und der größte Teil all dieser Zuschläge ist noch steuerfrei. Deutschland liegt damit in Europa im Durchschnitt. In Finnland, Dänemark, Österreich, Frankreich, in den Niederlanden und vor allem in der Slowakei (20,7 Prozent) gehen sonntags prozentual mehr Menschen zur Arbeit. Der Ausnahme-Bogen in Europa reicht weit. Manche Branchen können die Maschinen nicht so ohne weiteres stoppen. Die Herstellung von Mega-Chips etwa kann nicht unterbrochen werden, Hochöfen dürfen nicht erkalten, die Freizeit-Industrie hat gerade am Wochenende ihr Leistungshoch.

Der Druck aus dem bürokratisch-wirtschaftlich geprägten Brüsseler Euro­pa wächst, den Sonntag der Wirtschaft zu opfern. Das spüren auch die Kirchen, die sich bereits früh und deutlich geäußert haben. Papst Johannes Paul II. hatte sogar eine eigene Enzyklika dazu verfaßt. Unter dem Titel „Dies Domini“ erschien sie vor elf Jahren zu Pfingsten (31. Mai 1998) und behandelt in 87 Punkten umfassend die Problematik. Denn hinter Maschinenlaufzeiten und Arbeitszeitflexibilisierung steht die Frage, ob der Mensch nur ein homo faber sein soll, ob sich hinter dem Zeitentrend ein neues menschliches Richtbild entwickelt, wie Ernst Jünger schon 1931 in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Der Arbeiter“ vermutet. Das wäre ein später Sieg des Marxismus, eine Verwirtschaftung von Mensch und Gesellschaft. Der im Jahr der Enzyklika verstorbene Münsteraner Philosoph Josef Pieper hat dazu einmal ausgeführt: „Wenn ich in das Gesicht des modernen Menschen blicke, sofern es durch dieses neue Ideal, durch die Überbewertung der Aktivität geprägt ist, dann sehe ich in diesem Gesicht einen ganz bestimmten Zug, der genau der Überbewertung der Aktivität entspricht. Das ist der Zug der Angespanntheit, der chronischen Angespanntheit, ja der Überangespanntheit. Dies ist ein unterscheidender Zug. Unsere Großeltern haben so nicht ausgesehen.“

Nun sollen wir nicht alle so aussehen wie unsere Großeltern. Aber entspannter könnte es schon sein, schon damit der Gläubige am Sonntag in der Predigt nicht mehr das Nietzsche-Zitat vernehmen muß, wonach man ja gerne an die Erlösung glauben würde, „wenn die Christen auch erlöster aussähen“. Es geht um den Menschen und um mehr Menschlichkeit in der Gesellschaft. Es geht um das Humanum, um den Vorrang der Humanität vor Wirtschaft und Rendite. Der Artikel 140 Grundgesetz (früher 139 der Weimarer Reichsverfassung) schützt den Sonntag als „Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erbauung“.

Deshalb haben die Kirchen in Berlin auch ihre Verfassungsbeschwerde gegen das Berliner Ladenöffnungsgesetz vorgelegt. Sie richtete sich gegen „die Ökonomisierung der Familien“ und berief sich auf die „Gewährleistung der Religionsfreiheit“. Diese sei nur gegeben, wenn die „werktägliche Geschäftigkeit“ ruhe und der Sonntagsschutz auch in der Öffentlichkeit greife.

Der Mensch braucht diesen Schutz, weil er die Muße braucht. Pieper führt diesen Gedanken in seinem fast schon vergessenen Büchlein „Muße und Kult“ aus dem Jahre 1948 aus. Er macht klar, daß dies nicht nur eine Frage der Neuzeit ist. Schon die Klassiker und griechischen Philosophen haben sich damit eingehend beschäftigt. Platon etwa habe sich in seinem letzten großen Dialog über die Gesetze die Frage gestellt, ob es denn nicht für den Menschen, von dem er sehr wohl wisse, daß er zur Arbeit und zur Mühe geboren sei, irgendwann einmal eine Atempause gebe. Und auf diese Frage habe er sich selbst geantwortet: Ja, diese Atempause gibt es. Die Atempause sind die von den Göttern gesetzten kultischen Feiertage. Seit der Mensch denken kann, gab es diesen Zusammenhang von Ruhe und religiösem Ritus und Rhythmus.

Die Sonntagsfrage ist also nicht nur eine christliche Angelegenheit. Wie die gesamte christliche Lehre ruht auch sie auf anthropologischen Grundlagen. Das erklärt eingehend auch die Enzyklika über den „Tag des Herrn“. Auf dieser Grundlage der Natur des Menschen und seiner Notwendigkeit, Feste zu feiern und Ruhe zu haben für den inneren Raum seiner Persönlichkeit, für die Hinwendung zum Nächsten, für Solidarität, Gemeinschaft und Freude am Leben, baut die Theologie auf. Es ist auch der Tag für die Hinwendung zum Schöpfer, dessen Kommen in unsere Welt wir in diesen Tagen feiern.

Das Sonntagsgebot bezieht seine Legitimität und Begründung auch aus dieser naturhaften Notwendigkeit des Menschen, den inneren Raum seiner Existenz freizuhalten gegen den Ansturm der Arbeitswelt. Augustinus faßte es kurz: „Die Liebe zur Wahrheit drängt zu heiliger Muße.“ Ausnahmen gebe es nur, wenn „die Dringlichkeit der Liebe“ dies verlange. So habe Christus selbst in diesem Sinn Wunder am Sabbat gewirkt. Ansonsten bleibt das Postulat des Sonntagsgebots nach geistiger Erholung wesentlich und grundsätzlich. Pieper nimmt ein altes russisches Sprichwort zu Hilfe:   – „Arbeit macht nicht reich, sondern buckelig.“ Es gebe, so erklärt er, „auch eine innere seelische, geistige Buckligkeit“. Denn man könne „auch eingesperrt werden durch den totalitären Arbeitsstaat, dazu braucht man nicht arm zu sein. Vor allem kann man durch sich selbst eingesperrt werden, indem der innere Daseinsraum so sehr schrumpft, daß man sich eine sinnvolle Tätigkeit, die doch nicht Arbeit ist, überhaupt nicht mehr vorstellen kann. Ebendies wäre die geistig-seelische Buckligkeit“.

Ruhe und Mitgestaltung – in diesem Sinne ist nicht nur der Sonntag zu heiligen, sondern auch der Werktag, ja das ganze Leben. Aber eben alles zu seiner Zeit. Der Sonntag hat auch eine Ordnungsfunktion. Schon deshalb durften die Kirchen sich den Tag des Herrn nicht nehmen lassen. Sie mußten dem verkappten Neomarxismus wie dem Neoliberalismus die Stirn ihres Menschenbildes bieten, eines aufrechten Menschen, wie Platon schon genau in diesem ruhetäglichen Sinn sagte, und den Menschen unserer Zeit vor der inneren Verkrüppelung bewahren.

Mehr noch: Die Begriffe Arbeit und Ruhe müssen an der Schwelle zu einer Zeit mit neuen sozialen und wirtschaftlichen Strukturen neu überdacht werden. Der Mensch droht in einem kulturlosen Zeitbrei zu versinken, wenn die Verwirtschaftung aller Lebensbereiche auch den Sonntag vereinnahmt, ja in der Müllpresse der Konsumgesellschaft zerstückelt und zermahlt. Europa müßte hier vorangehen, statt sich dem Profitdenken der Wirtschaft unterzuordnen. Schließlich haben die Gründungsväter der Europäischen Union in der wirtschaftlichen Gemeinschaft kein Ziel an sich gesehen, sondern nur eine Stufe zu einer breiteren und tieferen Gemeinschaft unter den Völkern. Der europäische Mensch sollte ein homo cultus, spiritualis, ein homo religiosus sein. Robert Schumann, einer der Gründungsväter, drückte es so aus: „Der europäische Geist muß der politischen und wirtschaftlichen Einigung vorausgehen. Dieser christliche Geist ist das Fundament und das Lebenselement von Europa.“

 

Jürgen Liminski, Jahrgang 1950, studierte Journalismus und Informationswissenschaften an der katholischen Universität von Navarra sowie Geschichte und Politische Wissenschaften in Freiburg und Straßburg. Der Diplom-Politologe ist Publizist und Radio-Moderator und war Ressortleiter für Außenpolitik beim Rheinischen Merkur und der Welt. Derzeit ist er Geschäftsführer des Instituts für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e. V. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Vater in der Familie („Das Kind braucht beide Eltern“, JF 47/09).

Foto: Werktage mit Erwerbsarbeit und Haushalt, der Sonntag mit Erholung und Gottesdienstbesuch: Das Sonntagsgebot bezieht seine Legitimität und Begründung auch aus der naturhaften Notwendigkeit des Menschen, den inneren Raum seiner Existenz freizuhalten gegen den Ansturm der Arbeitswelt

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