© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  01/10 01. Januar 2010

Medizinischer Mehrfrontenkrieg
Chronik einer Desillusionierung: Zur Geschichte der Bakteriologie in Deutschland bis 1933
Sascha Hofmann

Zu einem günstigeren Zeitpunkt hätte Silvia Berger ihre Dissertation kaum auf den Markt bringen können. 2007 an der ETH Zürich abgeschlossen, erscheint ihre Geschichte der deutschen Bakteriologie bis 1933 mitten im medialen Getümmel um die „Schweinegrippe“. Mit sehr viel mehr Aufmerksamkeit als der von jener sonst üblichen Kleingruppe interessierter Wissenschaftshistoriker darf die frisch gebackene Frau Doktor also rechnen.

Natürlich muß bei ihr alles beginnen mit Robert Koch (1843–1910), der auf Bergers kurioser Landkarte „in Wollstein bei Pommern“ amtiert. Tatsächlich war der Wollsteiner Kreisphysikus seit 1873 in der preußischen Provinz Posen auf der Suche nach den Erregern des Milzbrandes, dessen Verheerungen die Viehdoktoren in Kochs Amtsbezirk nur hilflos mitansehen konnten. Koch vermutete, daß Mikroorganismen die Krankheit verursachten, eine Hypothese, die sich nach vielen Irritationen bestätigte. Der Entdeckerruhm trug dem Landarzt einen Ruf ans Kaiserliche Gesundheitsamt in Berlin ein, wo ihm bald weitere spektakuläre Erregernachweise gelangen (Cholera, Tuberkulose) und er vor allem in zahlreichen epidemiologischen Studien die Grundlagen seiner bakteriologischen Theorie der Infektionskrankheiten festigte. Mit dem Erfolg, daß er 1885 zum Ordinarius aufstieg und daß aus seiner Disziplin sich im Handumdrehen die neue medizinische Leitwissenschaft formierte, der die Kultusminister Lehrstühle für Hygiene und Bakteriologie sowie Forschungsgelder auf dem silbernen Tablett servierten.

Diesem Prozeß der Neustrukturierung naturwissenschaftlicher Erkenntnis widmet Berger ihr umfangreiches erstes Kapitel. Es ist eng an den sehr in Mode gekommenen Ludwik Fleck angelehnt, der 1935 erstmals soziologisch zu klären versuchte, wie „wissenschaftliches Wissen“ produziert wird, welche sozialen und psychischen Faktoren den „Denkverkehr“ unter Wissenschaftlern bestimmen, wie sich „Denkkollektive“ bilden, Einfluß gewinnen, Ressourcen erschließen, außerhalb des Faches Resonanz erzeugen, über „Denkstile“ weltanschauliche Orientierungen generieren. Fleck selbst konzentrierte sich in seiner Studie über „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftliche Tatsache“ an der Geschichte der Syphilisforschung, und Berger fand hier ein Exempel, auf das sie ihre „Formation“ der Bakteriologie in den 1880er und 1890er Jahren ausrichtet.

Wobei auch einiges an programmatischem Überhang entsteht, denn Koch und seine Schüler setzen sich ganz simpel deshalb durch, weil sie plausible Erklärungen für epidemische Krankheiten liefern und die von ihnen erzeugte „Bazillenangst“ therapeutisch zu bändigen wußten. Erst nach Kochs Debakel, das ihm und seiner gesamten „Leitwissenschaft“ die vermeintliche „Erfindung“ eines Heilserums gegen die „Volksseuche“ Tuberkulose bescherte, machten sich „Dissonanzen“ bemerkbar, die Berger in ihrem zweiten Kapitel offenlegt.

Die durch den „Denkstil“ der Koch-Schule genährte Fortschrittsutopie eines „Endsiegs“ über die Bazillen wurde zuschanden. Das heute noch im Zeichen von Aids, Sars, Vogel- und Schweinegrippe vorherrschende, leicht resignative Sisyphus-Bewußtsein, einen unendlichen Mehrfrontenkrieg gegen immer neue Erreger, immer neuen Seuchen kämpfen zu müssen, gewann bereits vor 1914 in der öffentlichen Meinung die Oberhand. Wenn Berger für die Zeit des Ersten Weltkrieges konstatiert, daß der Ansehensverlust schon deshalb abgebremst wurde, weil befürchtete große „Kriegsseuchen“ ausblieben, sieht sie, auch als Folge bakteriologischer Hilflosigkeit gegenüber der pandemischen „Spanischen Grippe“ (1918/19), den Stern des Fachs in der Weimarer Republik unaufhaltsam sinken, seine „Deutungshoheit“ erschüttert.

In ihrer Beschreibung der „Transformation“ der Theorien und Modelle, mit denen die Bakteriologen Terrain zurückerobern wollten, übersieht Berger jedoch, wie fleißig sie sich inzwischen Kompetenzen in der eng benachbarten Hygiene erschlossen hatten und wie selbstverständlich nunmehr „rassenhygienische“ Konzeptionen zur Gesundung des „Volkskörpers“ alte utopische Erwartungen reanimierten. Von hier aus hätte sich auch mehr Kontinuität hin zu ihrem „Ausblick“ auf die Fachgeschichte nach 1933 erschließen lassen.

Silvia Berger: Bakterien in Krieg und Frieden. Eine Geschichte der medizinischen Bakteriologie in Deutschland 1890–1933. Wallstein Verlag, Göttingen 2009, broschiert, 476 Seiten, 45,90 Euro.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen