© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/10 08. Januar 2010

In den Fängen der Parteipolitik
Die Kulturhoheit der Länder und die verwirrende Schulpolitik: Sechzehn Bundesländer – sechzehn verschiedene Schulstandards
Toni Roidl

Wer Kinder im schulpflichtigen Alter hat, kann in Deutschland jede Menge Abenteuer erleben. Das erste „Ereignisfeld“ ist der eigene Wohnort, denn je nach Bundesland kann die Schullaufbahn sehr verschiedene Wege nehmen. Das nennt man „Kulturhoheit der Länder“. Allen sechzehn deutschen Schulwesen ist nur gemein, daß die allgemeine Schulpflicht mit dem sechsten Lebensjahr beginnt und üblicherweise neun Jahre gilt. Doch damit hören die Gemeinsamkeiten fast schon wieder auf.

Selbst Kultusminister verlieren den Überblick

Ab sechs Jahren gehen Kinder bis zur vierten Klasse in die Grundschule – außer in Bremen, Berlin und Brandenburg, wo es sechs Primar-Jahrgangsstufen gibt. Nach der Grundschule – die nun vier oder sechs Jahre dauert – gehen diejenigen Schüler ohne Gymnasiumsempfehlung zur Haupt- oder Realschule. Es sei denn, sie besuchen in Sachsen die Mittelschule, in Sachsen-Anhalt die Sekundarschule oder in Thüringen die Regelschule. Oder sie besuchen gleich eine Gesamtschule. Die ist allerdings nochmals je nach Bundesland unterschiedlich geregelt.

Dem Sekundarbereich I, in dem länderspezifisch unterschiedliche Modelle von Orientierungsstufen möglich sind, folgt der Sekundarbereich II, der am Gymnasium zum „Zentralabitur“ führt. Außer jedoch in Rheinland-Pfalz, das als letztes Bundesland an nichteinheitlichen Prüfungsaufgaben festhält. Wenn schon die jeweiligen Kultusminister in diesem Kuddelmuddel kaum noch durchblicken, wie sollen dann erst die Schüler und Eltern das undurchdringliche föderalistische Schulsystem durchschauen?

Beispiel Zentralabitur: Nach der Wiedervereinigung entschieden sich vier der fünf neuen Länder für eine zentrale Prüfung, während sich Brandenburg an Nordrhein-Westfalen orientierte. Als NRW im Zuge des kurzfristigen Pisa-Schocks ein Zentralabi einführte, zog auch Brandenburg mit, beschränkte die zentrale Prüfung aber nur auf einige Fächer.

Auch Hamburg, Bremen, Nieder­sachsen, Schleswig-Holstein und Berlin haben bislang nur in einigen Abiturfächern landesweit einheitliche Prüfungsaufgaben. Das Saarland erfand eine eigene Sonderregelung, und die Rheinland-Pfälzer denken bisher gar nicht daran, zum Zentralabitur zurückzukehren, das sie als erstes Bundesland unter US-Besatzung einführten und danach gleich wieder abschafften. Vielleicht aus Vorsicht, weil es in NRW gleich mehrere Pannen bei der Einführung gab, unter anderem bezog sich eine Aufgabe auf den historischen Kontext des irrtümlich falsch angegebenen Verfassungsdatums eines Gedichts. Bei den Geschichtsklausuren mußten zudem die Anforderungshürden gesenkt werden.

Obwohl die schwarz-gelbe Koalition in NRW am dreigliedrigen Schulsystem festzuhalten verspricht, dürfen sich Haupt- und Realschulen nun auch zwischen Rhein und Weser zu „Verbundschulen“ zusammenschließen. In Bremen soll es ab 2011 neben dem Gymnasium nur noch die „Oberschule“ geben, in der alle Abschlüsse erreicht werden können – einschließlich des Abiturs nach neun Schuljahren, während die Gymnasien nur noch das Abitur nach acht Jahren bieten. Was in in der Bremen Oberschule heißt, plant Hamburg als „Stadtteilschule“. Während Hamburg allerdings ab diesem Jahr die sechsjährige Grundschule einführt, schafft Bremen dieselbe gleichzeitig ab.

Eltern wehren sich gegen politische Alleingänge

Auch Schleswig-Holstein sowie Mecklenburg-Vorpommern und Berlin setzen auf das zweizügige System aus Gymnasium plus „Regionalschule“. In Niedersachsen ist diese Reform knallhart am Kultusministerium abgeprallt, woanders müssen sich die Eltern selber wehren: In Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern laufen derzeit Volksbegehren gegen die Abschaffung der Elternentscheidung über die Schulform bzw. zum Erhalt der Realschule (siehe auch Seite 4).

Der rot-rote Berliner Senat plant derweil ebenfalls die Ausweitung der Grundschulzeit auf sechs Jahre. Ausnahme: Kinder, die zum Gymnasium wechseln, dürfen dies auch schon nach vier Jahren tun.

In Baden-Württemberg gibt es hierfür festgelegte Notenquoten: Für den Wechsel zum Gymnasium mindestens 2,5, von der Haupt- zur Realschule mindestens 3,0 etc. Doch auch hier soll die Hauptschule bald durch eine Kombischule ersetzt werden. Dabei ist man ebenso kreativ wie anderswo, was die Namensfindung für das neue Modell angeht: Im Ländle heißt es „Werkrealschule“, in Rheinland-Pfalz „Realschule Plus“ und im Saarland Gemeinschaftsschule.

Den Sozialdemokraten in Sachsen-Anhalts Großer Koalition ging das zweizügige System noch nicht weit genug. Die SPD scheiterte jedoch mit dem Vorschlag einer gemeinsamen Oberstufe für alle Schüler bis zur achten Klasse. Doch dafür führt die „kooperative Gesamtschule“ Gymnasium und Sekundarschule durch „schulformübergreifenden Unterricht“ zusammen.

Kein Wunder, daß der Anteil der Gymnasiasten stetig weiter steigt, selbst wenn das Mitbestimmungsrecht der Eltern weiter eingeschränkt werden soll. Erbrachten im Jahr 1950 nur 15 Prozent der Schüler ausreichende Leistungen für den Erwerb des Abiturs, erlangen heute deutschlandweitr 28,7 Prozent der Schulabgänger die allgemeine Hochschulreife. Während damals nur ganze 32.000 Abiturienten studierten, stürmten 2008 fast eine halbe Million an die Unis.

Den höchsten Anteil an Schulabsolventen mit allgemeiner Hochschulreife hat Mecklenburg-Vorpommern (52 Prozent; Daten nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 11 Reihe 1, Bildung und Kultur, Allgemeinbildende Schulen, Schuljahr 2008/09) gefolgt von Brandenburg (42,6 Prozent), Thüringen (40,9 Prozent) und den Stadtstaaten Hamburg (39 Prozent) und Berlin (38,5 Prozent), die niedrigsten Anteile hat Bayern (22 Prozent) gefolgt von Niedersachsen und Schleswig-Holstein (23,2 bzw. 25 Prozent).

In Bayern haben Eltern übrigens kein Mitspracherecht bei der Wahl der weiterführenden Schule. Statt dessen stellt Bayern die strengsten Anforderungen beim Notendurchschnitt: 2,33 muß das Grundschulzeugnis der vierten Klasse für den Wechsel zum Gymnasium aufweisen; für die Realschule muß es mindestens 2,66 sein. Auch deshalb liegt die Quote der Schulabgänger mit Hauptschulabschluß in Bayern mit 28,9 Prozent über dem Bundesdurchschnitt von 22,6 Prozent. Sie wird nur von Baden-Württemberg (29,9 Prozent) übertroffen.

Die niedrigsten Quoten finden sich in Mecklenburg-Vorpommern (8,7 Prozent), gefolgt von Sachsen (8,8) und Thüringen mit 13,4 Prozent. Nach dem Willen der bayerischen Sozialdemokraten soll mit dem bisherigen System allerdings bald Schluß sein, um „gemeinsames Lernen zu ermöglichen“. Modellversuche erproben bereits die Kooperation von Haupt- und Realschulen.

Die Verwirrung um das parteipolitisch inspirierte föderalistische Bildungschaos ist groß – allen Positivmeldungen von Zentralabitur und bundesweiten Bildungsstandards, die festlegen, was am Ende der vierten oder zehnten Klasse an Bildung vorausgesetzt werden sollte, zum Trotz. Die Kritik an den unterschiedlichen Bildungsstandards wächst und mit ihr die Forderungen nach besseren Vergleichsmöglichkeiten.

Diese Problematik hat auch der neue Präsident der Kultusministerkonferenz, Ludwig Spaenle, vor Augen, nichtsdestotrotz wertet der bayerische Kultusminister die Alleinzuständigkeit der Bundesländer für Bildung als Erfolgsmodell. „Konkurrenz belebt das Geschäft“, erklärt der CSU-Politiker voller Tatendrang.

Doch was geschieht? Während das klassische dreigliedrige Schulsystem vom Trend zur Zweizügigkeit verdrängt wird, haben viele Bundesländer die alternative Schulform neben dem Gymnasium dazu genutzt, sozusagen durch die Hintertür weiterhin ein Abitur nach 13 Schuljahren anzubieten. Und nicht nur das: Obwohl die Zweizügigkeit eigentlich eine Zusammenfassung bringen soll, ist in der Praxis eine vielfältige Zerfaserung der Schulformen die Folge.

Und in dieser Übersicht sind Gesamtschulen, Waldorfschulen und sonstige „integrative“ Schulformen noch nicht enthalten. Wen wundert es da, daß sich viele Eltern auch in Deutschland für eine gesetzliche Legitimierung des Hausunterrichts engagieren?

Foto: Föderale Verwirrung im Klassenraum: Brandenburg? Bayern? Welchen Wert hat das Abitur? Welchen der Hauptschulabschluß?

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