© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/10 08. Januar 2010

Geschichte aus der Traumfabrik
Deutschland braucht Leinwandhelden: Nationale Identität wird heute über Spielfilme konstruiert
Stefan Hug

Würde man nur einen Tag lang alle Filme aus US-Produktion in Deutschland aus dem Verkehr ziehen, wäre gähnende Leere die Folge. Große Kinokomplexe könnten vielleicht zwei oder drei Streifen aus deutscher und französischer Produktion abspielen; die Mehrheit der Säle bliebe stumm und schwarz. Viele Kanäle des privaten Fernsehens wären quasi stillgelegt, und auch die Programme der öffentlich-rechtlichen Sender kämen arg gestutzt daher.

Die Übermacht des US-amerikanischen Films hierzulande ist durchaus bekannt, aber sie wird kaum problematisiert. Man sieht sich – auch und gerade kulturell – als Teil des „Westens“, in dem Deutschland nach Irrungen und Wirrungen vor Jahrzehnten angekommen ist. Und nicht nur Deutschland: Man kann darauf verweisen, daß das Kino aus US-Produktion in anderen Ländern eine kaum geringere Rolle spielt.

Das stimmt. Allerdings relativiert sich diese Feststellung, wenn man deren Kassenschlager betrachtet. In ganz Europa gilt die Regel, daß Komödien aus heimischer Produktion oft grandiose Erfolge erzielen. Humor ist nicht übersetzbar, und die nationale Eigenart gibt ihm eine bestimmte Färbung. Franzosen lachen über andere Dinge als Deutsche. Der Ostfriese „Otto“ ist links des Rhein so gut wie unbekannt und hat mit seinen Filmen in Deutschland Einspielrekorde erzielt. Ganz Frankreich dagegen hielt sich den Bauch vor Lachen, als Regisseur Dany Boon 2008 den Unterschied zwischen Süd- und Nordfranzosen auf die Schippe nahm: „Bienvenue chez les Ch’tis“ (Willkommen bei den Sch’tis). Die Deutschen nahmen den Film nur am Rande wahr.

Darüber hinaus jedoch inszenieren die europäischen Völker Filme, in denen sie ihre nationalen Mythen zelebrieren, und das oft in sehr martialischer Weise. „Flammen & Citronen“ (Tage des Zorns) hieß der Kinoerfolg des Jahres 2008 in Dänemark. Er spielt im Zweiten Weltkrieg und behandelt das Schicksal zweier Widerstandskämpfer mit den Spitznamen „Flamme“ und „Zitrone“, die bevorzugt Kollaborateure unter ihren Landsleuten töten. Er schließt das heikle Thema also nicht aus, sondern integriert es in die Handlung. Am Schluß werden beide verraten, doch während sich „Flamme“ durch Gift tötet, um nicht gefoltert zu werden, kämpft „Zitrone“ bis zum letzten Atemzug, um dann im Kugelhagel deutscher Besatzungssoldaten zu sterben.

An der Kinokasse legt man den Pazifismus ab

An Filmen dieser Art fehlt es in Deutschland gänzlich. Sie sind einfach nicht vorhanden. Das zweitausendjährige Jubiläum der Schlacht im Teutoburger Wald belegt es eindeutig. Wäre dies ein nationaler Mythos der US-Amerikaner, sie hätten das Ereignis schon zigmal in epochaler Breite verfilmt. Nicht so bei uns. Sogar herausragende Ereignisse der eigenen Geschichte lassen wir uns von Hollywood aus der Hand nehmen. Bryan Singers „Valkyrie“ (Operation Walküre, 2008) war nicht die erste Verfilmung des 20. Juli 1944 aus US-Sicht, sondern hatte bereits einen Vorläufer, den Fernsehfilm „The Plot to Kill Hitler“ (1990).

Kino und Fernsehen haben seit Jahrzehnten die Druckmedien an Bedeutung abgelöst. Sie stehen erstrangig in der Wahrnehmung der breiten Bevölkerung, und sie vermitteln – auch und gerade über Unterhaltungsfilme – historisches Wissen bzw. Geschichtsbilder. Der kanadische Geschichtsprofessor Mark Cronlund Anderson schreibt: „Hollywood teaches history“. Und er führt als Beispiel an, daß unser Bild vom Wilden Westen eben nicht primär durch Sachbücher geprägt wird, sondern durch Westernfilme.

 In der Vermittlung durch das Kino tritt die historische Wahrheit hinter die Funktion zurück, das Publikum anzusprechen. Das geschieht nicht durch Differenzierung, sondern durch Vereinfachung. Ein einfaches Gut/Böse-Schema kennzeichnet zum Beispiel „The Patriot“ (Der Patriot, 2000). Mel Gibson mimt den gottesfürchtigen Familienvater, der sich nur widerwillig in den Unabhängigkeitskampf der USA hineinreißen läßt. Als aber einer seiner Söhne von einem sadistischen britischen Offizier getötet wird, ergreift er die Waffe und kämpft gegen die Besatzer aus dem britischen Mutterland. Am Schluß des Films schlachtet er den Mörder seines Sohns in Zeitlupe regelrecht ab.

Undenkbar in Deutschland; zwar führte bei „Der Patriot“ der Deutsche Roland Emmerich Regie, aber solche Szenen sind in deutschen Filmen unmöglich, was nicht heißt, daß sie bei deutschen Zuschauern schlecht ankommen würden. Schließlich berauschen sich deutsche Jugendliche gern und regelmäßig an Action-Filmen aus den USA. Spätestens an der Kinokasse legt man hierzulande den Pazifismus ab.

Bemerkenswert, daß man sich in der deutschen Filmindustrie überhaupt des Fliegerasses Richthofen erinnert, der eigentlich schon vergessen war und im Gedächtnis der Briten eher hochgehalten wird als im deutschen – doch das politisch korrekte Epos „Der Rote Baron“ (2008) versucht krampfhaft, dem As der Jagdflieger pazifistische Anwandlungen anzudichten. Kein Wunder, daß der Streifen floppte. Das Publikum verzeiht keine Zweideutigkeiten.

Der deutsche Film ist international eine Marginalie. Das ist seit Jahrzehnten so. Einzelne Erfolge wie „Die Brücke“ (1959“), „Die Blechtrommel“ (1979), „Das Boot“ (1981) oder „Der Untergang“ (2004) können daran nichts ändern – und sie bedienen sich ausnahmslos aus dem Fundus des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs. Zwischen den Weltkriegen dagegen war Babelsberg der größte Konkurrent Hollywoods, die deutsche Filmindustrie die zweitgrößte der Welt. Ihre Zerschlagung war für die USA ein willkommener Nebeneffekt des militärischen Siegs über Deutschland 1945.

Nationale Identität wird seit Jahrzehnten zu einem großen Teil über Spielfilme konstruiert; die Amerikaner wissen das und handeln danach. In Deutschland ist es immer noch ein Tabu. Das liegt mit daran, daß die Funktion des Films als Propagandamittel vor allem des Dritten Reichs im Gedächtnis der Eliten tief verankert ist: Die Filme Leni Riefenstahls und vor allem „Jud Süß“ werden automatisch damit assoziiert. Gleichzeitig aber genießt die „Feuerzangenbowle“ (1944) bei jeder nachwachsenden Generation in Deutschland Kultstatus.

Das Publikum verzeiht keine Zweideutigkeiten 

Immerhin: Zögerliche Vorstöße in Richtung einer Normalisierung sind in den letzten Jahren durchaus zu erkennen. Die Leiden der Deutschen werden aufgegriffen. Flucht und Vertreibung wurden in „Die Gustloff“ (2008) und „Die Flucht“ (2007) thematisiert, „Dresden“ (2005) behandelte die Zerstörung deutscher Städte im Bombenkrieg, „So weit die Füße tragen“ (2001) die Kriegsgefangenschaft deutscher Soldaten. „Der Untergang“ (2004) brachte sich den Vorwurf ein, Hitler eine menschliche Seite zu geben. Aus anderer Position könnte man aber sagen, daß er den „Führer“ entdämonisierte und somit einen unverkrampfteren Umgang mit der eigenen Geschichte möglich machte. „Das Wunder von Bern“ (2003) erzählt vom deutschen Sieg bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 und ragt aus der Aufzählung heraus, weil allein in diesem Film der Krieg nicht die zentrale Rolle einnimmt.

Wann aber kommt der deutsche Regisseur, der „Hollywood-like“ und nicht akademisch-hölzern einen Befreiungskampf der Deutschen in packenden Szenen darstellt? Etwa die Befreiung vom napoleonischen Joch? Wir hören schon die üblichen Bedenkenträger: „Aber das könnte die Franzosen beleidigen. Napoleon hat uns den Code civil gebracht, das war ein Fortschritt.“ Oder die besagte Schlacht im Teutoburger Wald? „Wir Deutsche haben mit den Germanen doch nichts zu tun, das ist eine nationalistische Konstruktion. Die Römer waren viel zivilisierter als die Germanen, eine römische Herrschaft wäre ein Gewinn gewesen.“

Das Medium Film und die nationale Identität stehen in der Moderne in einem engen Zusammenhang. Sie beeinflussen sich gegenseitig. Solange deutsche Filme keine mitreißenden Mythen erzählen, in denen sich Helden auch kämpfend bewähren, so lange wird es kein entspanntes Verhältnis zur eigenen Nation geben – mit allen Konsequenzen für die Realität jenseits der Leinwand. Einem Land ohne positive Geschichtsmythen wird auch die Reproduktion solcher Mythen im künstlerischen Bereich fehlen.

 

Stefan Hug studierte Volkskunde und Politikwissenschaft in Kiel und Tübingen. Heute arbeitet er als freier Publizist. Im Ares Verlag, Graz, ist soeben von ihm das Buch „Hollywood greift an! Kriegsfilme machen Politik …“ (gebunden, 184 Seiten, 19,90 Euro) erschienen.

Foto: Szene aus „Apocalypse Now“: Der vielfach preisgekrönte Film von Francis Ford Coppola handelt vom Vietnamkrieg und der Jagd auf den abtrünnigen US-Colonel Kurtz (Marlon Brando), der im Dschungel sein eigenes Schreckensregime führt. Von der über 400 Mitglieder zählenden, ältesten Filmkritiker-Vereinigung „The Critics’ Circle“ wurde „Apocalypse Now“ im Dezember 2009 zum besten Film der vergangenen drei Jahrzehnte gekürt. Verliehen wird die Auszeichnung am 18. Februar in London. Jason Solomons, Vorsitzender der Kritiker-Vereinigung, sagte dazu laut Guardian: „Seine Antikriegsbotschaft, großartigen schauspielerischen Darbietungen und bestechende technische Umsetzung haben eindeutig die Zeit überdauert. Deswegen bleibt der Film heute noch genauso relevant für Kritiker wie vor dreißig Jahren, als diese Vereinigung ihn bei ihrer allerersten Preisverleihung als besten Film auszeichnete.“

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