© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/10 15. Januar 2010

Der Untergang Ostdeutschlands
Mit der Offensive vom 12. Januar 1945 leitete die Rote Armee das schnelle und grausame Ende der Gebiete östlich der Oder ein
Heinz Magenheimer

Um die Jahreswende 1944/45 stand für den Generalstab des Heeres fest, daß die sowjetische Großoffensive gegen die Front zwischen den Karpaten und der Ostsee in Kürze beginnen würde. Man hatte die Stärke des gegnerischen Aufmarsches ziemlich genau erkannt und wußte auch um die erdrückende Überlegenheit an den Schwerpunkten. Den 1,82 Millionen Deutschen entlang der gesamten Ostfront standen 6,7 Millionen Sowjetsoldaten mit 12.000 Panzern und Sturmgeschützen gegenüber. Bei der am meisten bedrohten Heeresgruppe A, die den Abschnitt zwischen Warschau und den Karpatenkamm verteidigte, betrug das Verhältnis an Panzern und Sturmgeschützen sogar sieben zu eins. An einzelnen Durchbruchsabschnitten erreichte die sowjetische Überlegenheit bei Panzern und Infanterie das Neun- bis Zehnfache.

Generalstabschef Heinz Guderian hatte sich bemüht, möglichst starke Reserven aufzubieten, die im wesentlichen nur aus dem Westen geholt werden konnten. Doch Hitler und seine Berater lehnten es ab, die bereits steckengebliebene Ardennenoffensive abzubrechen, da sie die Initiative nicht verlieren wollten. Außerdem hatte man wertvolle Panzerdivisionen nach Ungarn verlegt, um das seit 25. Dezember eingeschlossene Budapest zu entsetzen. So mußte sich die Ostfront zwischen Memel und Karpaten mit einer Reserve von nur zwölf Divisionen begnügen: eine angesichts einer Frontlänge von 1.260 Kilometern katastrophale Unterlegenheit. Die Deutschen hatten zwar alle nur möglichen Abwehrvorbereitungen getroffen − vor allem die Anlage eines tief gestaffelten Stellungssystems −, doch man wußte, was im Falle eines sowjetischen Durchbruchs drohte.

Als der Gegner mit überwältigender Überlegenheit und einem mehrstündigem Trommelfeuer am 12. Januar aus dem Weichselbrückenkopf Baranow zum Angriff antritt, gelingt ihm trotz erbitterter Gegenwehr bis zum Abend der Durchbruch auf breiter Front. Zwei Tage später setzt Marschall Georgi Schukow, der die 1. Weißrussische Front befehligt, mit zwei Panzerarmeen zum Ausbruch aus dem Weichselbrückenkopf Warka an und stößt nach Westen durch, wenn auch deutsche Panzerdivisionen den Vorstoß verzögern können. Die „Festung“ Warschau wird am 17. Januar aufgegeben.

Der Zusammenhalt der deutschen Front geht unter dem Ansturm von 14 Armeen und vier Panzerarmeen schnell verloren; in der Front klafft eine Lücke von 200 Kilometern, in der nur noch einige wenige abgeschnittene Verbände als „wandernde Kessel“ kämpfen. Da der Volkssturm zu spät aufgeboten wird, fehlt die Besatzung der rückwärtigen Stellungen, die der Angreifer meist kampflos überwindet, so auch die noch aus den dreißiger Jahren stammende, gut ausgebaute Verteidigungsstellung des „Ostwalls“ westlich von Posen. Dazu kommt die Not der deutschen Zivilbevölkerung in Mittelpolen, die an manchen Stellen panikartig nach Westen flüchtet. Obwohl sich Generaloberst Ferdinand Schörner, der die Heeresgruppe A befehligt, über die Bedürfnisse der Bevölkerung hinwegsetzt, gelingt die Rückführung der meisten Flüchtlinge.

Der sowjetische Vorstoß verlangsamt sich zwar aufgrund von Ausfällen, kommt jedoch nicht zum Stillstand. Der Warthe-Abschnitt wird rasch überwunden, am 25. Januar schließen die Angreifer Posen ein, das die Deutschen einen Monat lang erbittert verteidigen, und am 31. Januar bildet eine Vorausabteilung sogar einen Brückenkopf über die zugefrorene Oder nordwestlich von Küstrin. Erst die Heranführung von Reserven, die von der Westfront kommen, ermöglicht den Aufbau einer Verteidigung an der Oder, ohne jedoch die Brückenköpfe zu beseitigen. In diesem Abschnitt soll die neu gebildete 9. Armee ihre letzte Abwehrschlacht liefern.

Inzwischen war Hitler am 16. Januar aus dem Westen nach Berlin zurückgekehrt und befahl, starke Verbände von Westen nach Ungarn zu transportieren, um endlich Budapest zu entsetzen und die Donau-Linie zurückzugewinnen. Trotz des Protests von Guderian werden nur geringe Kräfte an den Brennpunkten der sowjetischen Offensive eingesetzt. So konnte der Gegner sowohl in Hinterpommern als auch in Schlesien weiter vordringen. Beiderseits von Breslau gewann er Brückenköpfe über die Oder und schloß am 15. Februar die Stadt ein, die von 45.000 Mann erbittert verteidigt wurde und bis zum 6. Mai durchhielt.

Währenddessen hatte sich um Ostpreußen die zweite militärische Katastrophe vollzogen. Am 13. und 14. Januar eröffnete der weit überlegene Gegner seine Angriffe, die zunächst in der geschickt angelegten „Großkampfstellung“ von den tapfer kämpfenden Verteidigern aufgefangen werden konnten. Erst nachdem die deutschen Reserven verbraucht waren, glückte den Angreifern am 19. Januar südlich von Tilsit und nördlich der Festung Modlin der Durchbruch. Während vier Armeen von Osten in Richtung Königsberg angreifen, umfaßt Generaloberst Konstantin Rokossowski durch den Vorstoß von fünf Armeen in Richtung Danziger Bucht Ostpreußen von Westen her. Bis auf die stark verteidigten und zu Festungen erklärten Städte Thorn, Kulm und Graudenz (kapituliert erst am 6. März) geht noch im Januar das ganze Westpreußen östlich der Weichsel verloren, und die Wehrmachtseinheiten müssen westlich der Weichsel in Richtung Danzig zurückweichen.

Als die sowjetischen Angriffsspitzen am 25. Januar die Küste des Frischen Haffs nördlich von Elbing gewinnen, ist Ostpreußen vom übrigen Reichsgebiet abgeschnitten. Das von den Deutschen unter Generaloberst Georg-Hans Reinhardt noch gehaltene Gebiet gleicht einem schmalen, nach Südosten vorspringenden Sack, der laufend eingeengt wird. Nun versucht General Friedrich Hoßbach, der die 4. Armee befehligt, mit eiligst aus der Front gelösten Verbänden durch Angriff in Richtung Elbing auszubrechen. Dahinter steht der Plan, alle in Ostpreußen stehenden Truppen gemeinsam mit der Zivilbevölkerung hinter die untere Weichsel zurückzuführen und das Land zu räumen. Doch Hitler, der über eine eigenmächtige Frontverkürzung entrüstet ist und den Befehlshabern nicht mehr traut, setzt Reinhard und Hoßbach ab und befiehlt die rücksichtslose Verteidigung des gehaltenen Raumes. Damit werden zwar zwei deutsche Armeen in Ostpreußen festgelegt, decken aber durch monatelange Abwehr die Flucht der Bevölkerung über die Frische Nehrung und die Ostsee. Zwar konnte im Laufe des Februars eine neue, wenn auch brüchige Front zwischen der Weichselmündung und dem restlichen Oberschlesien gebildet werden, doch war eine nachhaltige Stabilisierung der Lage ausgeschlossen.

Nur noch die Rettung der Flüchtlinge hatte Priorität

Die Kämpfe in Ostpreußen, Pommern und Schlesien wurden weniger nach militärischen Aspekten, sondern vielmehr darum geführt, der verzweifelten Bevölkerung die Rettung in den Westen zu ermöglichen. Nur die Flucht bot einen Ausweg vor den massenhaften Greueltaten von Soldaten der Roten Armee an der wehrlosen Zivilbevölkerung. Es gelang unter höchstem Einsatz, oft unter Ausharren in militärisch hoffnungslosen Lagen oder gar Himmelfahrtskommandos schwach ausgebildeter Volkssturmabteilungen und völlig dezimierter und schlecht ausgerüsteter Wehrmachtseinheiten, etwa 1,5 Millionen Flüchtlingen den Rückweg offenzuhalten. Dieser wenig beachtete Erfolg kann als „stiller Sieg“ in der Endphase des Krieges gelten.

 

Dr. Heinz Magenheimer ist Militärhistoriker und lehrte an der Landesverteidigungsakademie Wien und an der Universität Salzburg.

Fotos: Flüchtlingstreck im Januar 1945 im ostpreußischen Braunsberg: Massenhafte Greueltaten, Winteroffensive der Roten Armee: Kräfteverhältnis sieben zu eins

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