© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/10 22. Januar 2010

„Außenpolitische Schande epischen Ausmaßes“
Großbritannien: Ex-Premierminister Tony Blair muß sich vor der Chilcot-Kommission Fragen zum Irak-Krieg stellen / Pakt zwischen Labour und US-Neocons
Derek Turner

Nicht nur in Deutschland, auch in Großbritannien war Beteiligung am Irak-Krieg von Anfang an sehr umstritten. Am 15. Februar 2003, knapp einen Monat vor Beginn der US-geführten Invasion, protestierten Hunderttausende in London dagegen. Die meisten Medien standen der Haltung der Blair-Regierung ebenso kritisch gegenüber wie die Abgeordneten der Liberaldemokraten und sogar einige Labour-Hinterbänkler. Daß das Parlament dennoch mit überwältigender Mehrheit für eine Kriegsbeteiligung stimmte, lag vor allem an den berüchtigten Massenvernichtungswaffen, mit denen Saddam Hussein angeblich innerhalb von 45 Minuten Großbritannien angreifen könnte – davon jedenfalls überzeugte Tony Blair die Mehrzahl der Labour- und Tory-Abgeordneten. Von den konservativen Medien ganz zu schweigen, die immer applaudieren, wenn britische Soldaten irgendwo auf Ausländer schießen.

Dank der Butler-Kommission von 2004 weiß man, daß diese Behauptungen nicht der Wahrheit entsprachen. Und man weiß, daß Blair Krieg um jeden Preis wollte. Die Anhörung Tony Blairs vor der 2009 eingesetzten neuen Irak-Kommission unter dem früheren Nordirland-Staatssekretär John Chilcot steht am 29. Januar an – und der Ex-Premier ist dabei um sein Image besorgt. In der populären Talkshow von Fern Britton behauptete Blair vergangenen Monat plötzlich, er habe gewußt, daß Saddam nicht über Massenvernichtungswaffen verfügte. „Trotzdem habe ich es für richtig gehalten, ihn zu stürzen.“ Offenbar überwog das Ziel des Regimewechsels aus seiner Sicht sämtliche strategischen Erwägungen. Viele der Ministerialbeamten und Soldaten, die bereits vor der Chilcot-Kommission ausgesagt haben, erklärten, sie hätten sich dem politischen Druck nicht entziehen können, mit dem – in vielen Fällen gegen ihren ausdrücklichen Rat – der Krieg um jeden Preis erzwungen wurde.

Der Teufelspakt zwischen Blairs moralischem Interventionismus liberaler Provenienz und dessen neokonservativem Pendant, wie es aus Washington und Tory-Kreisen propagiert wurde, soll laut dem damaligen britischen Botschafter in Washington, Christopher Meyer, bereits 2002 „mit Blut besiegelt“ worden sein. Die Entscheidung, Krieg zu führen, habe damit für Blair und George W. Bush festgestanden.

In einem Times-Beitrag mit der Überschrift „Machttrunkener Blair führte uns hinters Licht und in den Krieg“ nannte der Ex-Chef des Crown Prosecution Service, Ken Macdonald, den Irak-Krieg eine „außenpolitische Schande epischen Ausmaßes“. Soldaten seien „leichtfertig von einem der Großmannssucht verfallenen Premierminister und einer Führungselite, die sich im Schulterschluß übt, anstatt die Machthaber mit der Wahrheit zu konfrontieren, in tödliche Gefahr gebracht worden“.

Stabilisierung der Region wurde nicht erreicht

Weitere Zeugen berichteten von politischen Prioritäten, die sich praktisch über Nacht änderten – von „Eindämmung“ zu Invasion –, von schlechter logistischer und militärischer Planung, von mangelnder Kommunikation zwischen den einzelnen Ministerien und davon, daß Empfehlungen von Experten und militärische Lagebeurteilungen systematisch ignoriert wurden. Die damals erfahrene Mißachtung dürfte ein Grund für die Bereitwilligkeit sein, mit der viele dieser Experten nun die Torheit des seinerzeitigen Vorpreschens der Blair-Regierung offenlegen. Immerhin hat sich längst gezeigt, daß dadurch weder dem Irak geholfen noch eine Stabilisierung der Region erreicht wurde. Auch Osama bin Ladens Terrornetzwerk hat der Irak-Krieg mehr genützt als geschadet.

In den kommenden Wochen wird die Kommission vor allem Politiker in den Zeugenstand berufen, von denen naturgemäß weniger Offenherzigkeit zu erwarten ist. Vielmehr dürften sie versuchen, die begangenen Fehler zu vertuschen oder schönzureden – Fehler, die unmittelbar zum Tod Hunderter britischer Soldaten im Irak und Afghanistan geführt haben. Besonders gespannt darf man auf Blairs eigenen Auftritt sein – so er zwischen seinen Terminen wie der Beratung von Banken oder der feierlichen Eröffnung einer Formaldehyd-Fabrik in Aserbaidschan überhaupt Zeit genug dazu findet – ebenso wie auf diejenigen des damaligen Außen- und heutigen Justizministers Jack Straw, verschiedener Ex-Staatssekretäre aus dem Verteidigungsministerium und des ehemaligen Attorney General (obersten Rechtsberaters der Regierung) Lord Goldsmith, der Blair 2003 versicherte, der Krieg, den er so unbedingt vom Zaun brechen wollte, verstoße nicht gegen das Völkerrecht.

Bislang hat das Gremium seine Zeugen im höflich-zurückhaltenden Stil befragt. Jetzt dürfte eine schärfere Tonart erforderlich sein, damit der selbstgefällige Blair nicht mit seinem fatalen Größenwahn ungestraft davonkommt und die Öffentlichkeit die Chilcot-Kommission lediglich als einen weiteren Versuch wahrnimmt, Verfehlungen unter den Tisch zu kehren, statt die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Das darf auf keinen Fall passieren – nicht nur um der Wahrheit, sondern auch um der Gerechtigkeit willen: der tapferen britischen Soldaten und irakischen Zivilisten, die ihr Leben ließen und lassen, damit Blair weiter auf der Weltbühne posieren und profitieren kann.

Foto: Derek Turner ist Publizist und seit 2007 Herausgeber der britischen Zeitschrift „Quarterly Review“ (www.quarterly-review.org).

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